Lotte Reiniger

geb. 02.06.1899 in Berlin
gest. 19.06.1981 in Dettenhausen
Autor(in) Alfred Happ

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Der Silhouettentrickfilm – „Film ist Bewegung“
„Als ich noch ein Kind war, zeigte sich bei mir die beunruhigende Fähigkeit, Silhouetten auszuschneiden. Aber ich mochte diese nicht still und bewegungslos, ich spielte immer mit ihnen. Schon mit zwölf Jahren hatte ich mein eigenes, kleines, primitives Schattentheater.“ Dies berichtete Lotte Reiniger 1936 in London während eines Vortrags, den sie vor großem Publikum über die Geschichte des Trickfilms hielt. Scherenschnitte herzustellen war ihr also schon im Kindesalter eine geläufige Fähigkeit und sie hatte den Ehrgeiz, Bewegung in diese schwarzen Bildchen zu bringen. So wurde Lotte Reiniger zur großen Meisterin der bewegten Schattenbilder. Geradezu zwangsläufig fand sie zum Film, dem Medium, das Bilder in Bewegung setzte. „Film ist Bewegung. Die große Sensation der ersten Filme war die Tatsache, dass auf der Leinwand Fotografien zu sehen waren, die sich bewegten. Es erschien mir wie ein Wunder und ich erinnere mich noch genau an die Erregung, die mich befiel, als ich zum ersten Mal sah, wie Leute auf der Leinwand wirklich auf und ab gingen. Etwas Neues war geboren, eine völlig unabhängige Ausdrucksform: Bewegung auf der Leinwand.“ Dies schrieb Lotte Reiniger 1968 in einem Aufsatz in Rückerinnerung an ihre Anfänge. Als 1919 in Berlin ein Trickfilmstudio eröffnete, erhielt die noch nicht 20-Jährige zum ersten Mal die Gelegenheit, auf einem Tricktisch ihre Scherenschnittbilder in Bewegung zu setzen. Lotte Reiniger hatte ihre Lebensaufgabe gefunden.

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Bald schon folgte der Film, der sie weltberühmt machte: von 1923 – 1926 wurde „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ gedreht. Mit diesem ersten abendfüllenden Trickfilm machte sie Filmgeschichte.

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Besonderer Beliebtheit erfreuen sich ihre heiteren, graziösen Musikfilme aus der ersten Hälfte der 30er Jahre: „Harlekin“, „Carmen“ und „Papageno“. Immer wieder laufen im Fernsehen im Rahmen von Kindersendungen die Anfang der 50er Jahre in London gedrehten Märchenfilme. Insgesamt etwa 80 Filme hat Lotte Reiniger im Laufe ihres Lebens gedreht. Wichtigster Mitarbeiter war ihr Ehemann Carl Koch.

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Scherenschnitte – Bilder voller Bewegung

Natürlich fertigte Lotte Reiniger ein Leben lang Scherenschnitte an, gelegentlich als Fingerübung, als Vorstudien zu Filmfiguren, manchmal war es das Festhalten einer z.B. im Theater gesehenen Szene und ab und an plante sie auch ein größeres Projekt mit Scherenschnitten. So entstanden noch vor ihrer Filmkarriere eine Reihe von Schauspieler-Silhouetten aus Max Reinhardts Deutschem Theater, teilweise veröffentlicht im Buch.

„Das Loch im Vorhang. Licht- und Schattenbilder aus dem Deutschen Theater“ (Berlin 1920). Als Lotte Reiniger 1949 nach London übergesiedelt war, brauchte sie dringend Arbeitsaufträge, die Geld einbrachten.   Dieser Arbeits- und Verdienstnachweis war gegenüber der Einwanderungsbehörde wichtig, um die Aufenthaltserlaubnis verlängert zu bekommen. Da erhielt sie 1952 den „rettenden“ Auftrag zu einer Buchillustration. Die Sage vom König Artus wurde für junge Leute neu in das Englische übertragen und dieses Buch sollte sie illustrieren. Noch heute ist „King Arthur“ im gesamten englischsprachigen Bereich als Penguin-Taschenbuch mit Lotte Reinigers Bildschmuck erhältlich.

Schließlich schuf sie im Sommer 1971 mit rund 140 Scherenschnitten zu vier Mozart-Opern ein letztes großes Illustrationswerk, das erst nach ihrem Tod veröffentlicht wurde. Neben dem Genannten ist im Nachlass noch eine unglaubliche Fülle an Scherenschnitten vorhanden, darunter eine Vielzahl, die unmittelbar nach Ballettaufführungen entstanden. Alle Scherenschnitte Lotte Reinigers zeichnen sich dadurch aus, dass sie nie statisch wirken, sondern immer voller Bewegung sind. Die Schauspieler sind mitten in einer typischen Geste festgehalten, die Figuren der Mozart-Opern befinden sich häufig in einem lebhaften Dialog  und die Ballettszenen halten einen Moment im Bewegungsablauf fest, von dem man den Eindruck hat: es geht sofort weiter.Nie sind ihre Scherenschnitte „still und bewegungslos.“ Wenn sie größere Szenen schnitt, missachtete sie auch das ungeschriebene Gesetz, dass das ganze Bild aus einem Stück gefertigt sein soll. Sie konnte abschneiden und ankleben, was immer wieder bei den Mozart-Illustrationen zu beobachten ist. „Wichtig ist, dass das Ergebnis stimmt“, pflegte sie zu sagen. 

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Geschnitten hat sie, indem sie die Schere mit Daumen und Mittelfinger der rechten Hand hielt. Diese Hand wurde nicht bewegt, bewegt wurde ausschließlich das Papier.

Schattenspiel – „Spiel bewegter Schatten“
Dass Lotte Reiniger auf dem Gebiet des Scherenschnitt-Trickfilms eine Meisterin ohnegleichen war, ist weithin bekannt. Dass sie im Bereich der Scherenschnitt-Illustration Großes geleistet hat, ist durch ihre Buchillustrationen ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Weniger bekannt ist, dass sie auch auf dem dritten Gebiet der Schattenkunst, dem Schattenspiel, Wichtiges zur Weiterentwicklung dieser Kunst beigetragen hat. Wenn Lotte Reiniger Schattenspiel als „Spiel bewegter Schatten“ definiert, dann klingt das selbstverständlich. Aber das war es nicht in der europäischen Schattenspieltradition. „Europäische Schattentheater hatten schon immer mehr den Ehrgeiz, schöne Bilder vorzuführen als das „Spiel bewegter Schatten“ stellt Lotte Reiniger in ihrem Anleitungsbuch für Schattenspiel und Trickfilm fest.

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Durch das immer streng seitliche Profil der Figuren und dadurch, dass die Figuren stets von unten geführt wurden, um auf jeden Fall die Führungsstäbe zu verbergen, wirkte das ganze Spiel mehr schlicht und statisch als bewegt. Lotte Reiniger machte auf ihren Reisen zwei Entdeckungen, die sie für das Schattentheater fruchtbar machte. 1927 hatte sie eine Ägyptenreise gemacht und 1936 hatte sie den griechischen Schattenspieler Mollas besucht. Beide Male gewann sie eine neue Erkenntnis für die Profilgestaltung ihrer Figuren. „Was haben die großen Profilkünstler der Vergangenheit gemacht, um der Umrißlinie mehr Ausdruckskraft zu verleihen? Sehen wir dazu die Reliefs der Ägypter und der griechischen Vasenmalerei an, der anerkannten Meister der Profilkunst. Siehe da, sie haben die Lösung gefunden! Sie zeigen die Füße im Profil, aber sie zeigen auch die beiden Schultern und somit auch beide Arme und erweitern dadurch ihre Ausdrucksmöglichkeit. Wir wollen es ihnen nachmachen.“ (s. Abb. 10) Bei Mollas hatte sie außerdem gesehen, wie horizontale Führungsstäbe den Figuren eine große Freiheit in der Bewegung verschaffen.

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Plötzlich können die Figuren Purzelbäume schlagen, Sprünge machen und losgelöst vom Boden in der Luft herumwirbeln. „Diese Vorstellung machte mir Lust, in Zukunft wie Mollas mit horizontal statt senkrecht gehaltenen Führungsstäben zu spielen.“ Anfang der 50er Jahre, als sie noch nicht wieder ein Trickfilmstudio hatte, arbeitete Lotte Reiniger viel für das Schattenspiel. Zum einen richtete sie für die damals renommierte englische Puppenbühne „The Hogarth Puppets“ u. a. das Wilde-Märchen „Der glückliche Prinz“ als Schattenspiel ein. Zum anderen bekam sie vom Fernsehen den Auftrag zu einer Serie von Märchen-Schattenspielen, die live von der Schattenbühne abgefilmt und übertragen wurden. Für beide Arten von Schattenspiel setzte sie die früher gewonnenen Kenntnisse um: reichere Profilgestaltung und horizontale Führungsstäbe.

So gestaltete sie auch die Schattenspiele für große Bühnen, die, nach dem Tod ihres Ehemannes 1963, in den 60er und 70er Jahren entstanden sind: „Die Reise zum Mond“ (1967), „Die Geschichte von den 17 Kühen“ (1967), „Weihnachtsmanns Irrtum“ (1969) und „Die Zauberflöte“ (1973).
Lotte Reiniger war ein Leben lang damit beschäftigt, Silhouetten zu bewegen. Am liebsten tat sie das in ihren Trickfilmen. Solange sie diese Möglichkeit noch nicht hatte, führte sie im Englisch-Unterricht Theaterszenen mit ihrer Schattenbühne auf. Als es nach dem Krieg 1945 in Berlin kaum Möglichkeiten zum Filmen gab, inszenierte sie für die „Berliner Schattenbühne“ ihrer Freundin Elsbeth Schulz die Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“, „Gestiefelter Kater“ und „Dornröschen“. Bis 1952 wurden diese Stücke gespielt und wanderten dann in die Puppentheatersammlung in Radebeul.

 

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Lotte Reiniger gab ihre neu gewonnenen Erkenntnisse über Figurenführung und Figurengestaltung, die das europäische Schattentheater aus einer gewissen Starre befreiten, gerne an interessierte Bühnen – auch durch Kurse – weiter. Natürlich hat das Schattentheater inzwischen viel weiter gehende und neue Möglichkeiten entdeckt, doch ein erster Schritt in eine größere Freiheit der Spielgestaltung wurde durch Lotte Reiniger vollzogen. In Australien, Belgien, England, Südafrika und Deutschland spielen Bühnen heute noch nach Lotte Reinigers Methode.

Anmerkung
– Soweit nichts anderes vermerkt ist, stammen alle Zitate aus dem Buch: Lotte Reiniger: Schattentheater, Schattenpuppen, Schattenfilm. Eine Anleitung. Tübingen 1981.
– Der gesamte Nachlass befindet sich im Lotte Reiniger Museum im Tübinger Stadtmuseum. In einer Dauerausstellung ist ein Querschnitt durch das gesamte Schaffen Lotte Reinigers zu sehen: Scherenschnitte, Filmhintergründe und Filmfiguren und Schattenspielszenen.
– Das Schattenspiel „Weihnachtsmanns Irrtum“ hat Lotte Reiniger 1978 mit der Schattenbühne Happ neu einstudiert, die es heute noch im Programm hat.
– Abb. 1 u. 4 aus Lotte Reiniger: Silhouettenfilm und Schattentheater, Verlag Karl M. Lipp, 1979
– Abb. 2 aus Christel Strobel/Hans Strobel: Lotte Reiniger, 1993
– Abb. 3 aus Lotte Reiniger: Schattentheater, Schattenpuppen, Schattenfilm eine Anleitung, Texte Verlag Tübingen, 1981
– Abb. 7-9 aus Lotte Reiniger, Schauspieler-Silhouetten, Mozart-Opern, Andersen-Märchen Aspekte eines Lebenswerkes, Tübinger Katalog Nr. 17, 1982
Auszeichnungen
1955 Erster Preis für Fernsehkurzfilme auf der Biennale von Venedig
1966 Ehrenmitglied der UNIMA
1972 Filmband in Gold für „langjähriges und hervorragendes Wirken im deutschen Film“
1979 Bundesverdienstkreuz

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