Melchior Grossek

weberDie Kunst des Scherenschnittes ist sehr alt. Allgemein wird angenommen, dass sie ihren Ursprung in uralten religiösen Gebets- und Beerdigungszeremonien hat und sich wahrscheinlich an die fernöstlichen Schattenfiguren anlehnt. Bei archäologischen Ausgrabungen in Nordwestchina werden 1959 Scherenschnitte aus dem 6. Jahrhundert n.Chr. gefunden, teilweise aus noch früherer Zeit. Im 7. bis 14. Jahrhundert werden Scherenschnitte immer populärer und finden bei den Frauen Verwendung als Kopfschmuck, bei Festen und Feierlichkeiten als dekorative Elemente an Türen, Fenstern, Wänden oder Lampions und halten mehr und mehr Einzug im täglichen Leben. Zu allen Zeiten ist diese Kunst ein Spiegel der Kulturen, der Bräuche und der Religionen auf allen Kontinenten. So sind in Mexiko häufig auf farbigem Papier zweiköpfige Götter dargestellt, die eine reiche Ernte garantieren sollen und die jüdischen Scherenschnitte verwenden traditionsgemäß für religiöse und rituelle Zwecke jüdische Symbole und Texte, ähnlich jenen Darstellungen im Innern der Synagogen.

Über den Orient hält der Scherenschnitt Anfang des 17. Jahrhunderts auch in Europa seinen Einzug, zur Goethezeit hat er in Deutschland seine Blütezeit, die mit dem Aufkommen der Fotographie jäh ihr Ende findet. Das 19. und vor allem das 20. Jahrhundert bescheren uns wieder eine ganze Reihe namhafter Vertreter dieser Darstellungsform, von denen hier drei Künstlerinnen exemplarisch genannt sein sollen, die auch religiösen Themen Ausdruck geben. Die Österreicherin Josefine Allmayer (1904-1977) hat neben naturbezogener Motivgestaltung auch eine Vielzahl religiöser Darstellungen in Scherenschnittbilder gefasst. Dorothea Brockmann (1899-1983) gründet mit einer Freundin in München eine Schule zur Herstellung und zum Vertrieb eigener kunstgewerblicher Erzeugnisse, sie konvertiert zum katholischen Glauben und tritt gemeinsam mit besagter Freundin 1931 in Eichstätt in die Benediktinerinnenabtei St. Walberg ein. Über 6600 Scherenschnitte aus ihrer Hand sind nachgewiesen, darunter eine Vielzahl mit religiösen Themen. Und schließlich Maria Louise Kaempffe (1892-1962), die viele Jahre als Kunsterzieherin im Schuldienst tätig ist, die die biblische Geschichte mit vielen Mariendarstellungen und mehrteiligen Adventskrippen ins Bild bringt, dazu „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ erzählt, auch ein halbes Hundert Personen aus ihrem Familien- und Freundeskreis in Porträtsilhouetten festhält und eine höchst liebenswerte Märchenerzählerin faszinierend in Position rückt.

Priester und Künstler

Melchior Grossek wird am 6. Januar 1889 im Schlesischen Bralin, Kreis Groß Wartenberg, geboren. Er nimmt nach dem Abitur in Breslau an der dortigen Universität das Studium der katholischen Theologie auf und erfährt an der benachbarten Akademie gleichzeitig eine künstlerische Ausbildung bei Heinrich Tüpke. Hier könnte Grossek durchaus der vorgenannten Maria Louise Kaempffe begegnet sein, die, nur drei Jahre jünger, an der gleichen Kunstakademie bei den Professoren Karl Hanusch und Hans Poelzig studiert und 1912 ebendort ihr Staatsexamen ablegt. Grossek wird 1913 zum Priester geweiht und tritt anschließend seinen Dienst als Kaplan in Berlin an, das damals noch zum Bistum Breslau gehört und erst aufgrund der Vereinbarungen im Preußischen Konkordat vom 14. Juni 1929 aus dem Bistum Breslau ausgegliedert und 1930 als selbständiges Bistum errichtet wird. Von 1920 bis 1922 wird Grossek für ein ergänzendes Kunststudium in München, Aachen und Bonn beurlaubt und ist anschließend  als Taubstummen-, Strafgefangenen- und Künstlerseelsorger für die Großstadt Berlin tätig. 1924 wird ihm die Pfarrei St. Franziskus in Berlin Friedrichshagen anvertraut, jenem Vorort Berlins, der sich auch heute noch gerne als „Künstlerdorf“ bezeichnen lässt und in dem bereits 1890 der „Friedrichshagener Dichterkreis“, eine bis in unsere Tage noch lebendige und aktive Initiative, gegründet wird. Ab 1938 bis zu seinem Übertritt in den Ruhestand 1964 ist er Pfarrer in der Gemeinde „Heilige Familie“ in Berlin Lichterfelde. Zeit seines Lebens geht es ihm um die Übersetzung des Evangeliums in die Praxis des Lebens. Grossek, der Seelenhirt und Künstler, nimmt sich in seinem Beitrag „Expressionismus und christliche Kunst“ für die Zeitung Germania (Ausgaben Nr. 469/471 vom 24./26.10.1920) auch selbst in die Pflicht: „Wie der Priester von der Kanzel durch das Wort, so soll der Künstler (…) durch das Bild predigen. Für beide Prediger lautet der Auftrag: lehret die Völker!“ Wenige Stunden vor seinem Tod skizziert Grossek noch das Bild vom verlorenen Sohn, der sich heimkehrend in das Erbarmen des Vaters fallen lassen darf, des Priesters und Künstlers letzte Predigt, an seinem Todestag, am 9. Juli 1967.

Melchior Grossek – sein Werk

Die Zeugnisse seines künstlerischen Schaffens sind schwer ausfindig zu machen, nicht zuletzt auch deshalb weil sein Leben in eine unruhige, von Katastrophen geprägte Zeit fällt, in der vieles verloren geht, aber auch deshalb, weil er seine Lebensbestimmung zuerst in seiner Berufung zum Priester und erst danach zum Künstler sieht und schließlich wegen des aus Unterschätzung seiner Arbeiten resultierenden Umgangs mit seinem Nachlass. Als Alleinerbin verteilt seine Schwester, die 1929 in die Benediktinerinnenabtei St. Erentraud in Kellenried eingetreten ist, schon nach kurzer Zeit an acht bis zwölf Freunde und Bekannte von Grossek, die er wohl als Wegbegleiter geschätzt hat, fast den gesamten Nachlass. Der Verfasser hat bisher davon lediglich eine Einheit mit 163 Grosseks ausfindig machen und erstehen können. Das zeigt auf, was theoretisch – irgendwo bisher vergessen und unbeachtet – noch aufzuspüren möglich scheint.

melchiorgrIm 2009 erschienenen Band 63 des „Allgemeines Künstler-Lexikon“ (K.G. Saur Verlag) ist Grossek als Graphiker, Silhouettenschneider, Zeichner, Maler, Kunstgewerbler, Bildhauer(?) und Schriftsteller aufgeführt. Ferner ist vermerkt: „G., … der vorrangig die seelsorgerische Beziehung zum Publikum sucht, bearbeitet beinahe ausschließlich religiöse Themen und tendiert zu einem gemäßigten Expressionismus.“ Der Verfasser, der sich das Ziel gesetzt hat, eines Tages ein Melchior Grossek-Werkverzeichnis zu veröffentlichen, hat bisher 931 von Grosseks künstlerischen Arbeiten aufgefunden und katalogisiert, 33 davon sind im Besitz von Museen, kirchlichen Einrichtungen und Privatpersonen. 40 Scherenschnitt-Originale aus seinen beiden Hauptwerken sind verschollen und anhand der 1923 veröffentlichten Reproduktionen erfasst worden. Für 224 bisher bekannte weitere, ausschließlich religiöse Motive hat Grossek über 530 Linol- und Holzschnitte geschaffen,  dazu über 40 Aquarell-Skizzen mit vorwiegend Reisemotiven in der Allgäuer Bergwelt und an südliche Gestaden, die Grosseks späten Lebensjahren zuzuordnen sind. Ergänzt wird das bisher bekannte Lebenswerk durch über 120 Bleistiftskizzen aus allen Lebens- und Schaffens-Dekaden. Seine frühesten erhaltenen Arbeiten sind in zwei Skizzenbüchern aus den Jahren 1910/1912 dokumentiert, Bewegungsskizzen aus der Tier- und Zirkuswelt und auf dem Tennisplatz, ebenso Bau- und Landarbeiter, dörfliches Jahrmarktstreiben und Porträts von Kommilitonen sowie Stadt- und Landschaftszeichnungen aus Grosseks Heimatort und Umgebung.

Scherenschnitte

abendmahl grossekAb wann sich Grossek mit Scherenschnittarbeiten beschäftigt hat, ist nicht bekannt. All seine Vorarbeiten, einschließlich Skizzen, sind nicht datiert. Aber mit Beginn seines ergänzenden Kunststudiums von 1920 bis 1922 in München, Aachen und Bonn wird er die nötige Ruhe und Konzentration dafür gefunden haben. In einem aufgefundenen Briefumschlag, adressiert an Herrn Kaplan Melchior Grossek in Bonn a/Rh. Meckenheimerallee 46 mit Poststempel vom 12.7.22, sind abgerissene Teile des Scherenschnittes „Das letzte Abendmahl“ (handschriftlicher Vermerk von Grossek auf Kuvertrückseite „Ketten l. Abendmahl“) aufgehoben. Er arbeitet zu der Zeit an seinem Werk „Das Leben“. Jesus wird in seinem 33. Lebensjahr ans Kreuz geschlagen, wohl deshalb wählt Grossek 33 biblische Ereignisse aus und gibt ihnen Form in der ihm eigenen lebendigen Ausdruckskraft.

grossek04Der 1871 zum Schutz deutscher katholischer Auswanderer gegründete St. Raphaelsverein bringt 1922 von diesen Motiven vorab 15 als religiöse Postkarten in Umlauf, der Reinerlös ist zu Gunsten des Vereinsanliegens. Mittlerweile sind 10 dieser Motivkarten im Besitz von zwei Privatsammlern. Die Motive, die auf den noch fehlenden 5 Postkarten dargestellt sind,  bleiben vorerst unbekannt. 1923 ist „Das Leben“ im Verlag Herder erschienen. Nicht alle Motive sind für die Scherenschnitttechnik gleich dankbar, wie der Kritiker in „Stimmen der Zeit“ Band 105 im Erscheinungsjahr 1923 bemerkt, und führt weiter aus: „Mit besonderem Glück wusste der Künstler durch landschaftliche Motive Leben und Empfindungen in die Szene zu bringen.“ Jedem der 33 Scherenschnittmotive ist auf hauchdünnem Seidenpapier ein bisweilen nachdenklicher Begleittext von Georg Timpe, Pallottiner und erster Generalsekretär des St. Raphaelvereins, beigegeben. Zu dem 7. Bild „Heilige Familie“ des Werkes, in seiner Art eine eher seltene Darstellung, führt er aus: „… Sein eigenes Leben zu leben – wie ist es berauschend! Wie ist es hart im Unmaß des Selbst!… Wie ist es klein, will es überragen und führen! Wie ist es groß, wenn es dient! O du großes Nazareth.“

grossek06Die Bildgestaltung ist in den einzelnen Motiven ausdrucksstark, aber nicht übermäßig dramatisch ausgearbeitet, wie es durchaus nicht nur bei der “Enthauptung Johannes des Täufers“, durchaus thematischen Gestaltungsfreiraum liefert. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat Grossek zur gleichen Zeit, wohl parallel, auch sein zweites großes Scherenschnittwerk „Gestalten des Todes. Ein Totentanz des Weltkriegs“ geschaffen und veröffentlicht es ebenfalls 1923 im Verlag Kurt Schröder, Bonn und Leipzig. Die Gestalt des Todes erscheint in allen Totentanzbildern gleich bleibend als bestimmender, vernichtender Knochenmann, aber er agiert entsprechend dem jeweils gezeigten Aufgabefeld in dramatisch, teuflischer Nuancierung, er flötet an der Spitze des Ausmarsches, wirkt als Strippenzieher im Kampfgetümmel und genießt sein vollbrachtes Tagwerk in „Überwunden“.

In der vorgenannten Reproduktionsveröffentlichung von 1923 ist diese  letztgenannte Arbeit nicht enthalten. Dem ersten Zyklus mit 15 Motiven wollte Grossek noch zwei  weitere mit gleichem Umfang folgen lassen. Es liegen zwar reichlich aufrührende Skizzen vor, auch Ausarbeitungen sind bekannt, teilweise in mehreren Varianten, aber zur Veröffentlichung der Folgereihen ist es nicht mehr gekommen.

grossek05Der Totentanz wird eindeutig als Grosseks bemerkenswertestes Hauptwerk eingestuft. Wenn Peter-Christian Wegner  in seinem überzeugenden Buch „Melchior Grossek. Das künstlerische Werk eines Berliner Priesters“ Grossek als einen Vertreter des  gemäßigten Expressionismus bezeichnet, so nimmt er dessen Totentanz davon ausdrücklich aus. Aufgewühlt von den Tagesereignissen jener Zeit ist dieses Werk ein aggressiver Protest gegen die menschenverachtende Wucht der kriegerischen Grausamkeit, eine einzige Anklage ob des körperlichen und seelischen Leids dem die Menschheit unterworfen ist und auch Ausdruck seiner persönlichen Trauer und Klage. Zwei ältere Brüder sind Grossek genommen, eine auf ihm lastende Inspirationsquelle für den Kriegstotentanz, er schafft ihn den Brüdern zum Gedächtnis. Doch alles Leben liegt in Gottes Hand. Diesem Bibelwort gibt Grossek in jenem Scherenschnitt schon frühzeitig Gestalt, den er wohl als Versöhnung bringenden Abschluss des gesamten Totentanz-Zyklussees vorgesehen hat: Der Engel im strahlenden Lichterglanz, des Todes Handwerkszeug, die ramponierte Sense, in der linken Hand, zu seinen Füßen Kriegsgerümpel und Skelettteile des entmachteten Todes und in der rechten Hand den hochragenden Palmenzweig, das Friedenssymbol. Gott ist unsere Zuversicht!

grossek07Außer den genannten beiden Scherenschnitt-Werken „Gestalten des Todes. Ein Totentanz des Weltkriegs“ und „Das Leben“ sind noch einige weitere Scherenschnitte mit religiösen Motiven bekannt, vorwiegend Themen und Gestalten des Alten Testamentes. Zwei davon sollen hier noch genannt werden. Im Staatsmuseum in Breslau wird der ungleiche Kampf zwischen „David und Goliath“ verwahrt, die dazugehörige Bleistiftskizze ist dieser Tage erst aufgefunden worden. Nicht alle künstlerischen Arbeiten hat Melchior Grossek signiert, nicht alle hat er mit einem Titel versehen. Aber seine charakteristische Handschrift in Formgebung und Gestaltungskraft ist eindringlich in seiner Aussage. So auch sein unbetitelter Scherenschnitt: „Die Sintflut“.

grosseksig     grosseksig.01

 

Autor(in) Adalbert Klein

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert