Goller Hedwig

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Autor(in)  Barbara Stamer
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Biografisches

Hedwig Goller wurde 1920 geboren.

Nach pädagogischer Ausbildung von 1940 bis 1942 nahm sie bis 1945 die Lehrtätigkeit in den Fächern Kunsterziehung und Textiles Werken auf. Von großer Bedeutung für die Entwicklung und Ausbildung der Künstlerin auf dem Gebiet der Grafik in diesen Jahren war die damals über die Landesgrenze hinaus bekannte Württembergische Staatliche Kunstgewerbeschule (später: Akademie der Bildenden Künste), deren Fachabteilung für Grafische Künste den Namen „Stuttgarter Schule“ erhielt. Diese war damals ein Ausstrahlungspunkt deutscher Schriftkunst, Schriftkultur und Grafik, deren Auswirkungen bis heute reichen. Der Leiter war Professor Ernst Schneidler, dessen Sohn Peter Schneidler, Maler und Grafiker, Hedwig Goller in den Jahren von 1945 bis 1950 ebenfalls wesentliche künstlerische Impulse gab.

Schon Ende 1945 erschienen von der Künstlerin Schrift- und Scherenschnittpostkarten. 1947 bekam sie einen Illustrationsauftrag vom Steinkopf-Verlag und von der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart. Verschiedene Frauenzeitschriften zeigten damals Interesse an den Schrift- und Scherenschnittarbeiten der Künstlerin und verpflichteten sie zur Gestaltung bestimmter Titelseiten.

Von 1950 bis 1980 nahm Frau Goller die Lehrtätigkeit wieder auf; vor allem auch in der Lehrerfortbildung. Hervorzuheben sind der Teillehrauftrag an der Ph. Schwäbisch Gmünd und fachwissenschaftliche Veröffentlichungen aus der Zeit von 1968 bis 1969.

Ab 1981 konnte Hedwig Goller ihre künstlerische Tätigkeit wider aufnehmen. Seit 1983 finden Einzel- und Gemeinschaftsausstellungen in Stuttgart und weiterer Umgebung statt.


Zum Werk von Hedwig Goller

Das Werkzeug für Hedwig Goller ist nur Papier und eine kleine Schere, in seltenen Fällen ein Messer. Der Reiz ihrer Kunst liegt in der Abstraktheit des künstlerischen Gestaltungsprozesses, der sich innerhalb der Gesetzmäßigkeit von geschnittenem Papier bewegt. Dies bedeutet Konzentration, Abstraktion und hohes handwerkliches Können.

Faszinierend die Gegensätzlichkeit und Vielfalt ihrer Scherenschnitt-Techniken: Einerseits der klassische Scherenschnitt, dessen strenge Gestaltungsregeln sich mit dem Symbolisch-Märchenhaften vereinen und in der Verbindung von formalistischer Strenge und zeichenhafter Interpretation neue Märchen-Darstellungsformen ins leben rufen und andererseits der farbige, freie Scherenschnitt, der von der Künstlerin in kreativ-expressionistischer Weise gehandhabt wird, so dass im Zusammenspiel mit der Mischfarbentechnik neue reizvolle Farbeffekte und Kompositionen erzielt werden. Hierfür benutzt sie eine von ihr neu entwickelte Technik: Das Blatt wird mit breitem Pinsel großflächig und stark farbig aquarelliert. Danach werden mit Schere oder Messer Konturen herausgearbeitet, die auf dem Bild weiß sichtbar sind. Die zerfließenden Farbflächen werden als Kompositionselement mit einbezogen.

Gegenüber den erwähnten Märchenillustrationen im Fischer-Verlag, die damit breit veröffentlicht sind, sind die Arbeiten Hedwig Gollers zu Mörike und seinen Werken weniger bekannt, aber in der künstlerischen Ausgestaltung noch ambitionierter. Wir wollen Eduard Mörike und Hedwig Goller im folgenden ein wenig durch die gemeinsame Heimat und Märchenwelt begleiten…

Die Entstehung des Dinggedichts „Auf eine Christblume“ ist uns in einem Brief an Hartlaub goller-1-l01überliefert: Mörike, der die Christblume tatsächlich auf einem Friedhof fand und sie in einem Glas. „in den Mondschein“ stellt, ist von ihrer Gestalt inspiriert, nennt sie eine „mystische Blume“, die ihn „sehnsuchtserregend“ und „reizend fremd“ ansieht. Betrachten wir den feingliedrigen, zarten Scherenschnitt „Auf eine Christblume“, so scheint diese von Mörike dargestellte Atmosphäre in dem bildnerischen Kunstwerk eingefangen. Der Schmetterling als Symbol des Gestaltwandels, der den Tod überschreitet, ist auch in dem Scherenschnitt zentrales Kompositionselement, Werden und Vergehen, liebe und Tod sind im Hell-Dunkel-Kontrast des Scherenschnitts symbolisch dargestellt.

Die Ästhetik des zart schwebenden Schmetterlings in seiner entmaterialisierten Form, der bei Mörike über sich hinaus auf Ewiges verweist, findet in dem Scherenschnitt seine künstlerische Entsprechung. Das Thema wurde in verschiedenen Versionen geschnitten und auch als Titelbild für das Buch „Märchen aus der Schwäbischen Romantik“ gedruckt.


Das 1828 entstandene Gedicht „Erstes Liebeslied eines Mädchens“ widmet Mörike einem Freund zur Hochzeit und nennt es selbst „ein Liebesliedchen, das ich gestern auf der Steige von Weingarten vor mich hinbrummte“. Mörike, der als Vikar an seiner Berufung zum Pfarrer zweifelte, hat 1828 um Beurlaubung gebeten und sich auf eine Urlaubsreise an den Bodensee begeben. ’n dieser Zeit schrieb er einige seiner schönsten Liebesgedichte.


Der Scherenschnitt greift interpretatorisch die Metapher des Netzes auf:
„Was im Netz? Schau einmal!
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Aber ich bin bange,
greif ich einen süßen Aal?
Greif ich eine Schlange?
Lieb ist blinde
Fischerin…“


 Ganz im Gegensatz zu biedermeierlich beschaulichen Interpretationen wird durch die scharfen Konturen des Scherenschnitts die unerträgliche Spannung und Verstrickung im Netz des Lebens und der liebe besonders deutlich, ein Lebensgefühl, das für Mörikes Schicksal besonders kennzeichnend war. Der Scherenschnitt verändert die Geliebte zur fremden, unerreichbaren Gestalt und stellt so im Schwarz-Weiß. Kontrast das Gefangensein in der liebe und die Befreiung aus dem Netz der Liebe dar, der Scherenschnitt ist so auch eine Interpretation der späteren Peregrina-Erlebnisse Mörikes.

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Eine zweite Scherenschnitt-Variation des Themas zeigt das Mädchen sogar in der Gestalt der  Nixe, der Verführerin, die mit ihren überlangen Armen und dem Schlangen leib den Geliebten umfängt und in den süßen Abgrund lockt.


 

 

Das phantasmagorische Zwischenspiel „Der letzte König von Orplid“, das später in den Roman „Maler Nolten“ eingefügt wurde, ist für Mörikes Freund Ludwig Bauer geschrieben worden. Die mystische Vorstellungswelt von Orplid, der fernen Märcheninsel, ein Zauberreich der Phantasie, wurde von den Freunden gemeinsam erdacht und erdichtet, es ist das geistige Zentrum, in dem sich Mörikes Dichtung abspielt. Der tausendjährige König Ulmon, der auf einer verlassenen Insel, die von Elfen, Nymphen und Gnomen bevölkert ist, sein Gedächtnis martert, im Stillstand der Zelt die Ewigkeit durchwandert und sich nach seiner Befreiung aus dem zauberischen Liebesbann der Feenfürstin sehnt, „muss tanzen“, in ewigem Kreislauf. Haare und Hände der Fee sind im Scherenschnitt Obergroß dargestellt, der Boden des blauen Saals dehnt sich zum Kreis, zum Gewölbe, die grinsenden Fratzen auf den Fliesen symbolisieren die Traumgesichte und die Verzweiflung des alten Königs. Die grüne Schlange der Fee gibt dieser die Macht der uralten Schlangengöttin.

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Mörikes berühmte Märchendichtung „Das Stuttgarter Hutzelmännlein“, in das die „Historie von der Schönen Lau“ eingefügt ist, gilt heute als die bekannteste und wohl auch schwäbischste Dichtung Mörikes. Überreich an phantastischen und amüsanten Einfällen ist die höchst kunstreich verfügte Handlungsstruktur des Kunstmärchens auch Ausdruck der Freude an komisch-närrischem Sprachgebaren und altertümlichen Wortgebilden und Redensarten, so z.B. „s’leit a Klötzle Blei…“Im Gegensatz zum einfach strukturierten Volksmärchen verschmilzt hier das Phantastische mit dem Wirklichen. Der Schauplatz der Handlung ist echt schwäbisch: Die Wanderung des Handwerksburschen Seppe von Stuttgart über Urach, Feldstetten, Suppingen auf der Schwäbischen Alb nach Blaubeuren und Ulm bildet die Rahmenerzählung des Kunstmärchens.

                

Der großflächig in einem Stück geschnittene Scherenschnitt von Hedwig Goller  setzt diese detaillierte Bildgeschichte ins Visuelle um: Die Schöne Lau und ihr Wassergemahl im Blautopf bilden den Zentralpunkt der Komposition. Die Schöne Lau trägt alle Wesensmerkmale der Lebensspendenden Großen Göttinnen: Sie hält die Hände erhoben, wie die archaischen Göttinnen-Statuetten, der Mond erstrahlt über ihr eine eigene Interpretation der Künstlerin. Besonders eindrucksvoll ist hier die künstlerische Wiedergabe wichtiger Erzählinhalte, die Umsetzung der epischen Fiktion in die Dynamik des bildlichen Ausdrucks: Das liebespaar, die Seiltänzer, das Hutzelmännlein, die Zauberschuhe, die Blumen, die Wellen, die Wasserfee, das ferne Land… alles ordnet sich zu einer fast visionären Schau.

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Justinus Kerner, der mit den Freunden Ludwig Uhland, Wilhelm Hauff, Gustav Schwab und Eduard Mörike den Kern des Schwäbischen Dichterkreises bildete, schrieb einen heute fast in Vergessenheit geratenen Roman „Die Reiseschatten“. Die Freunde hatten gemeinsam ein Chinesisches Schattenspiel in Tübingen gesehen, daraus entstand die Idee, einen Roman in Schattenreihen zu entwerfen. Reiseerlebnisse und die Begegnung mit dem geistig umnachtetem Hölderlin, der von den Freunden hochgeschätzt wurde, fließen in den Roman mit ein. Der großflächige, an einem Stück geschnittene Scherenschnitt (Originalgröße: 20 x 45 cm) zeigt in filigranhafter Detailliertheit das typisch romantisch-phantastische Szenario, in dessen Mittelpunkt die Traumvision des gespenstischen Reiters mit der Lilie, des Dichters Holder (= Hölderlin!) steht, in der Traumfeme das Nixenschloss, das Meer, die Muscheln, die Waldfrau mit dem Kinde.

 

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