Cracknell Lotte

Cracknell, Lottefoto-cracknell

* 22.04.1898 in Gut Royum in Schleswig
? 20.12.1951 in Walchensee
Autor(in) Prof. Dr. Hans Helmut Jansen
aus: Vereinszeitung SAW  29

 

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Lotte Cracknell wurde am 22. April 1898 auf dem Gut Royum bei Schleswig geboren. Ihr Vater war Offizier. Den englischen Namen verdankt sie englischen Vorfahren. Nach ihren eigenen Angaben sei ihr Großvater in England ein Kronrichter gewesen.
Auf dem Gut Royum verlebte Lotte Cracknell ihre Jugend. Sie wurde Krankenschwester des Johanniterordens und fertigte in ihrer Freizeit aus Liebhaberei Scherenschnitte für ihren Freundeskreis an. Diese fanden einen derartigen Beifall, dass sie sich bald nur noch dieser Kunst widmete. Aus ihrer innigen Versenkung in die Natur entstanden zarteste Nachbildungen aus der Pflanzen- und Tierwelt, auch Landschafts- und Gruppenbilder. Die Künstleragentur des Rauhen Hauses in Hamburg verlegte und verbreitete ihre Arbeiten.

In ihrem um 1925 dort erschienenen Buche „Kleine Welt am Wegesrand“ vereinigte sie eine Fülle trefflicher Scherenschnitte von Blumen, Gräsern, Faltern und Käfern mit dem Vorspann:
Aus dem Buch „Kleine Welt am Wegesrand“
„Kleine Welt große Welt  cracknell_03
Sternenblumen Wandelstern
Wiesengrund und Sternenzelt
Gottes Atem nah und fern.“
Die Scherenschnitte sind vor einem gelben Hintergrund gestaltet.
Die kommentierenden Texte hat die Künstlerin selbst verfasst und dadurch ihre Scherenschnitte verinnerlicht. Diese Scherenschnittabbildungen und weitere aus einer Mappe „Vogelleben“, in der verschiedene Vogelarten in ihren Tätigkeiten, singend oder ihre Jungen fütternd, dargestellt werden, wurden auch als Postkarten herausgegeben. Sie sind noch heute erhältlich.

Lotte Cracknell war mit einer Tante meiner Frau eng befreundet und auch gern gesehener Gast in deren Elternhaus. Meine Frau hat herzlich gute Erinnerungen an „Tante Lotte“, die viel mit ihr und dem jüngeren Bruder spielte. Insbesondere erhielt dabei das Kasperlespiel eine künstlerische Bereicherung. Für das Poesiealbum meiner Frau Rosemarie schnitt sie ein großes „R“ und bekränzte es mit Rosen und Nelkenblüten und einem singenden Vogel

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Der begleitende Text lautet:                                       cracknell_05_gedicht
Ob wir lachen, oder ob wir weinen –   
ob die Welt voll Qual uns
ob voll Freude –
immer trägt der Sommer seine Blüten.
Und wir wissen wenn wir manchmal
weinen – dennoch trägt der Sommer seine Blüten und das Leben seinen                        
tiefen Glanz
Meiner lieben Rosemarie – Lotte Cracknell



 

Nach dem Tod der Tante Therese Lauer im Jahre 1975 erbten wir 16 gerahmte Scherenschnitte und ein großes Silhouettenalbum mit der Widmung „Kleiner Dank für viel, viel Liebes“. Die gerahmten Scherenschnitte zieren unser Treppenhaus und sind Anlass zu steter Freude für uns und manchen Besucher. Es handelt sich um Landschaftsbilder mit fein gesponnenen Spinnennetzen. Auf den Bildern sind Blumenwiesen mit unnachahmlich zart ausgeschnittenen, sich überdeckenden Gräsern und Blüten, sitzende und fliegende Vögel und Bienen oder auf den gespannten Drähten eines Telegraphenmastes hat sich eine Schar von Schwalben niedergelassen.

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Im nächsten Bild vor zart angedeuteter Landschaft sitzt zwischen zwei hohen Bäumen, mit einem singenden Vogel zu Füßen, die Muttergottes mit dem Christuskind auf dem Schoß.
Wie auf diesen Bildern erhöhte Lotte Cracknell gern die Wirkung ihrer Silhouetten durch Hinterlegung mit zart koloriertem Seidenpapier.

Das Silhouettenalbum enthält Portraitsilhouetten von der Familie und der Frankfurter Gesellschaft, darunter den Schattenriss von Rudolf Geck (1886-1936), der 36 Jahre lang das Feuilleton der „Frankfurter Zeitung“ geleitet hat. Manchmal begegnen wir hier in ihren Scherenschnitten karikaturistischer Ironie. Aus unmittelbarer Beobachtung heraus wurden die beiden Klatschbasen an der Straßenlaterne geschnitten. Sehr lebendig geraten ihre Scherenschnitte von bestimmt charakterisierten Personen. Einmal trägt die gehende Tante Therese Lauer einen Blumenstrauß zur Gratulation vor sich, dann bringt die Haushälterin Hildegard Dusei den Kaffee auf einem Tablett herbei.

Der Scherenschnitt „Tango“ entstand so. Im Gespräch über Tänze erklärte unsere Tante: „Für mich ist der Tango der schönste Tanz“, sprach‘s und ging für kurze Zeit in die Küche, einen kleinen Imbiss zu bereiten. Bei ihrer Rückkehr einige Minuten später empfing Lotte sie mit den Worten: „Hier hast du deinen Tango“ und überreichte ihr den fertigen Schnitt. Dieser Vorgang zeigt Lotte Cracknells Arbeitsweise auf: Sie fertigte ihre Scherenschnitte stets völlig frei, ohne jede Vorlage oder Vorzeichnung. Sie hielt die Schere fest in der rechten Hand und führte das Papier mit der linken Hand gegen die Schere. Gelegentlich malte Lotte Cracknell auch Aquarelle, vornehmlich Blumenbilder.

Lotte Cracknell war eine ganz eigene vielseitige und vielschichtige Künstlerpersönlichkeit. Eine langjährige Freundin charakterisierte sie so: „Lotte war amüsant, interessant, klug, hatte einen zwingenden Blick aus sehr schönen, braunen Augen, ein eindrucksvolles Gesicht, doch war sie, wenn man sie zu nahe kannte, doch manchmal etwas aufregend und anstrengend.“
Eine feste Beschäftigung hatte sie nie. Auf Fragen nach ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen antwortete sie stereotyp: „100 Mark habe ich immer“. Durch eine Krebserkrankung und Folgeoperation mit Lähmungserscheinungen litt sie in späteren Jahren unter starken Schmerzen und wurde in ihrer Arbeit sehr behindert. Durch die Krankheit kam sie an Morphium und stand ziemlich oft unter dessen Einfluss.
Sie fand in diesen schweren Zeiten immer wieder Unterstützung aus ihrem Freundeskreis und wechselte dabei häufig ihren Wohnsitz. Nach dem Krieg verschaffte sie sich mit ihrem Charme bei den Engländern einen besonderen Ausweis. Sie erzählte wegen antinationalsozialistischer Einstellung, die sie ohne jeden Zweifel hatte, im KZ gewesen zu sein. Diese „Haftzeit“ war jedoch vermutlich ein Aufenthalt in einer Entziehungsanstalt. Aber sie bekam den Ausweis, mit dem sie dann sich und anderen alle möglichen Vorteile zum Wiederaufbau beschaffte.

Lotte Cracknell zog später nach Seehausen bei Wittenberge und siedelte dann nach Süddeutschland über. Sie starb nach langer Krankheit, wohl auch an den Folgen ihrer Morphiumsucht am 20. Dezember 1951 in Walchensee. Unsere Tante blieb ihrer Freundin Lotte in Liebe und Verstehen bis zu ihrem Ende treu. Meine Frau behält Tante Lotte in Erinnerung als warmherzige, äußerst liebenswerte, charmante – fröhliche, besinnliche und stets hilfsbereite Frau. So hielt sie in beeindruckender Weise auch jüdischen Freunden die Treue, bis diesen die Ausreise nach Sydney gelang.Die Freude über das erhaltene Kunsterbe und die persönliche Erinnerung an die Künstlerin veranlasste uns, dass wir uns mit der Kunst des Scherenschnittes weiter befassten. Wir lernten dabei besondere Kunstwerke und liebe, interessante Menschen kennen.

Eine Freundin von Lotte Cracknells war die Medizinstudentin Rose Hölscher, die von ihr in Frankfurt in den Jahren 1919 bis 1921 den Scherenschnitt erlernt hat. Während dieser Zeit hat sie an der Universität Frankfurt/M. Medizin studiert. Im Kolleg silhouettierte sie die Hochschullehrer der Frankfurter Medizinischen Fakultät. Die „Frankfurter Charakterköpfe aus der Medizinischen Fakultät“ erschienen als Buch im Jahre 1921, eine Sammlung von 39 trefflichen Portrait – Scherenschnitten bekannter Kliniker und Forscher. Sie sind ein kulturhistorisches Denkmal und ein bibliophiles Rarissimum. Rose Hölscher heiratete später den jüdischen Arzt Dr. Meier in Hamburg und emigrierte 1933 mit ihm in die USA. Dort ist sie 1963 gestorben.
Mit welchen Scherenschneiderinnen in früher und heutiger Zeit ist Lotte Cracknell zu vergleichen? Eventuell mit der Benediktinerin Dorothea Brockmann (1899-1983), die im Jahre 1953 ein Tafelwerk „Blumen in Scherenschnitten“ herausgab. Diese Scherenschnitte sind jedoch kraftvoller und weniger zart ausgeführt, als bei den Blumenwerken von Lotte Cracknell.

Eine Verwandtschaft mit der Gestaltung des floralen Scherenschnitts ist bei der Scherenschneiderin Margarete Rhades (geb. 1926) gegeben. Sie lässt es gelegentlich nicht bei reinen Pflanzenschnitten bewenden sondern komponiert sie geschickt unter einem Motiv wie „Kräuter der grünen Soße“, die in der Abbildung zu einem Kreis vereinigt sind. Frau Rhades pflegte wie Lotte Cracknell den floralen Scherenschnitt in zarten zum Teil filigranen Nachbildungen. Margarete Rhades lebt in Langen und hatte am 21. Mai 2006 im Dorf Messel in der Schule neben der Kirche eine Scherenschnittausstellung anlässlich ihres 80. Geburtstages. Wegen ihrer künstlerischen Verwandtschaft mit Lotte Cracknell habe ich ihr diesen Aufsatz zum 80. Geburtstag gewidmet.

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