Andersen, Hans Christian
* 02.04.1805 in Odense
? 04.08.1875 in Kopenhagen
Autor(in) Ejnar Askgaard/
Otto Kirchner
aus:Vereinszeitung SAW 20
Geboren 2. April 1805 in Odense, Dänemark (wahrscheinlich im heutigen Hans-Christian-Andersen-Haus), gestorben in Kopenhagen am 4. August 1875 (an Leberkrebs). Die Eltern Anna Marie Andersdatter (ca. 1774 – 1833) und Hans Andersen (1782 – 1816) waren sehr arm. Der Vater, der die Familie als Schuhflicker ernährte, starb sehr jung. Aus dieser Zeit stammen die ersten poetischen Versuche Hans Christian Andersens. Er interessierte sich sehr für das Theater. Die deutsche Bühne in Odense, Dramen von Holberg, Shakespeare und den antiken griechischen Autoren unterstützten diese Leidenschaft. Im Alter von 14 Jahren zog Hans Christian Andersen nach Kopenhagen, wo er eine Karriere am Königlichen Theater anstrebte. Nach drei Jahren wurde ihm gekündigt. Zwei dramatische Theaterstücke, die er der Direktion des Theaters zugesandt hatte, entschieden seine weitere Zukunft, da ihm in einer Lateinschule eine Ausbildung angeboten wurde, die er mit Dankbarkeit annahm. Im Jahr 1829 beendete Andersen seine Ausbildung (Präliminar-Examen) und fing seine literarische Karriere an. Seine Literatur hatte Erfolg. Da Andersen nur von seiner Poesie lebte, war sein Schaffen sehr produktiv, was große Kritik in seiner Heimat hervorrief. 1835 publizierte Hans Christian Andersen seinen ersten Roman und Märchen. Mit diesen Werken stieg sein Ansehen in Europa und in den USA. Der Höhepunkt seines Schaffens war im Jahre 1847 – 1848.
Mit 30 Auslandsaufenthalten in Europa fand Hans Christian Andersen viele Freundschaften – besonders in Deutschland – und er war immer ein lieber Gast bei vielen Künstlern, Bürgern und beim Hof. Trotz vieler Freunde und einer Sehnsucht nach Familie blieb er Junggeselle und litt ein Leben lang unter dem Alleinsein.
Die Gesamtproduktion Andersens verteilt sich wie folgt:
– etwa 1000 Gedichte
– 175 Märchen und Geschichten
– rund 50 dramatische Arbeiten
– etwa ein Dutzend Reisebücher und -berichte
– 14 Romane
– 3 Autobiographien
– dazu mehrere biographische Arbeiten und Abhandlungen
Aus seinen persönlichen Papieren wurden Hans Christians Tagebücher (10 Bände) und ein Ausschnitt seiner Korrespondenz (mehr als 3000 Briefe) veröffentlicht.
Otto Kirchner (SAW 20/2002):
Andersen ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller, seine Märchen und Geschichten kennt man in der ganzen Welt. Sein Leben begann ärmlich, am Ende war er ein berühmter und gefeierter Mann. Seine Reisen („Reisen ist Leben“ war seine Devise) führten ihn durch ganz Europa, nach Nordafrika und in die Türkei. Bei diesen Reisen und bei den vielen Besuchen im heimatlichen Dänemark hatte Andersen stets Schere und Papier dabei.
Er schnitt, während er erzählte:
Wenn er mit seiner Geschichte fertig war (oder beendete er sie, weil er mit dem Papier fertig war?), breitete er einen ganzen Streifen Ballerinen vor uns aus; sie hielten sich an den Händen und streckten die Beine in die Luft, und Andersen war glücklich über sein gelungenes Werk.
Andersen hat, wie viele Scherenschneider, bereits als Kind mit dem Ausschneiden begonnen. In „Das Märchen meines Lebens“ berichtet er:
„Täglich nähte ich Puppenkleider, und um bunte Lappen dafür zu bekommen, ging ich in die Läden und bat, mir Proben von Stoffen und Seidenbändern zu schenken. Meine Phantasie bewegte sich so völlig um dieses Puppenzeug, dass ich auf der Straße stehen blieb und die reichen Damen in Samt und Seide betrachtete. In der Phantasie sah ich all ihren Putz und Staat unter meiner Schere.“
Dass er nicht nur Stoffe für seine Puppenkleider zerschnitt, sondern auch Papier, zeigt ein Zitat aus dem Roman „Die beiden Baronessen“:„Ich verstand mit einer Schere die allerschönsten Sächelchen zu schneiden, das hatte ich schon als Kind gekonnt, und in vielen Familien bewahrt man noch die von mir ausgeschnittenen Sachen.“
Andersens erstes Buch erschien 1829, sein erster Roman „Der Improvisator“ 1835. Im selben Jahr erschienen, eher als Nebenprodukt, die ersten beiden Hefte der „Märchen für Kinder“, darin „Die Blumen der kleinen Ida“:
Meine armen Blumen sind ganz tot, sagte die kleine Ida. Die waren gestern so schön, und nun hängen alle Blätter welk herab, weshalb tun sie das? fragte sie den Studenten, der auf dem Sofa saß, denn sie hatte ihn sehr gern: er konnte die allerschönsten Geschichten erzählen und schnitt so drollige Bilder aus: Herzen mit kleinen Frauen darin, die tanzten; Blumen und große Schlösser, an denen Türen geöffnet werden konnten; es war ein lustiger Student.
Offensichtlich ist aus dem Jungen mit den Puppenkleidern jetzt ein Student geworden, der erzählt und Bilder ausschneidet. Es ist nicht die einzige Erwähnung der Scherenschnitte in diesem Märchen, in dem zweiten Zitat wird überraschenderweise Kritik daran geübt:
„Was soll das heißen, dem Kind so etwas weiszumachen!“ sagte der grämliche Kanzleirat, der zu Besuch gekommen war und auf dem Sofa saß; er konnte den Studenten gar nicht leiden und murrte immer, wenn er sah, wie dieser die wunderlichsten, lustigen Bilder ausschnitt: bald einen Mann, der an einem Galgen hing und ein Herz in der Hand hielt, denn er war ein Herzensdieb, bald eine alte Hexe, die auf einem Besen ritt und ihren Mann auf der Nase hatte; das mochte der Kanzleirat nicht. Mit dem Mann am Galgen liefert Andersen den Grund für die Ablehnung gleich mit. Die Erwähnung des Herzensdiebs ist um so verwunderlicher, als er überhaupt nichts mit der Geschichte von den welken Blumen zu tun hat.
Andersens Scherenschnitte sind auch sonst keine Illustrationen zu seinen Märchen. Es sind zwar oft Figuren, welche auch die Geschichten bevölkern, aber sie wirken wie eigenständige Wesen. Oft wirken sie wie symbolhafte Darstellungen seiner eigenen Person; man hat sie auch als seine Pseudonyme bezeichnet. Eines dieser verfremdeten Selbstporträts ist der Tänzer mit den drei Köpfen. Er hat die gleiche Nase wie das von Andersen gezeichnete Selbstporträt. „Wie ein Kanonenrohr so lang die Nase, die Äuglein winzig, Erbsen gleich“ beschreibt er sich selber. Die große Nase taucht in vielen Figuren auf, falls der Kopf nicht nur von vorne zu sehen ist, wie bei einem einfachen Faltschnitt. Vielleicht hat der Tänzer deshalb drei Köpfe, damit die Nase zu sehen ist; erst mit den drei Köpfen und der Nase wird die Figur so eindrucksvoll. Man konnte aber auch an den optischen Eindruck bei schnellem Drehen denken. Andersen gibt keine Erklärungen zu seinen Figuren, auch nicht zu dem breitbeinig in seinen Stiefeln dastehenden Mann. Dieser hat nicht nur große Ringe am Ohr, an diesen hängen auch noch zwei Figürchen mit einer Art Fächer in der Hand. Außerdem hat der Mann gleich zwei Herzen in der Brust (Andersen hätte das Herz ja nachträglich hineinschneiden können), und was er über den Schultern hat, sieht auch nicht wie eine Jacke aus, sondern eher wie zwei Flügel. Noch merkwürdiger ist der unsymmetrische Spitzbart, der aus dem dicken Hals herausgeschnitten worden ist. Ein Engel mit einem solchen Bart wäre eine seltsame Erscheinung! Christian Morgenstern schreibt von „Des Märchendichters Scheere“:
Unsere Scheere nämlich hatte zu ihrer großen Geschicklichkeit, die sie mit mancher ihrer Schwestern teilte, auch noch eine Art Seele, die sie zu einem ganz neuen und außerordentlichen Wesen machte, sobald es ihr einfiel, in sie zu fahren. Sie fuhr aber immer zugleich mit den Fingern ihres Herrn in sie, so dass es aussehen konnte, als währen diese selbst ihre Seele. Da würde man sich aber sehr getäuscht haben. Denn unsere Scheere ward von diesem Augenblick an ein ganz eigenwilliges Persönchen, das bald so, bald so dachte und that, recht wie eine kleine Prinzessin, die sich nichts zu versagen braucht, wonach ihr Herz steht. (SAW 2)
Morgenstern versucht, die besonderen Eigenschaften der Scherenschnitte deutlich zu machen, indem er der Schere ein Eigenleben zuspricht. Aber wenn Andersen das Papier mehrfach faltet, um eine ganze Figurenreihe auszuschneiden, so war es nicht die Schere, welche das tat, sondern Andersen selbst, in der Absicht, die geknickte Reihe nachher aufstellen und anblasen zu können, um sie in Bewegung zu setzen. Auch der winzige Schaukelstuhl war beweglich, der als einzige Papierskulptur überlebt hat. Er ist im Andersenmuseum in Odense ausgestellt, zusammen mit der großen Schere, die Andersen benutzt hat. Über die Schere berichtet eine Augenzeugin:
„Er schnitt viele Silhouetten; dabei gebrauchte er immer eine riesige Papierschere – es war mir unbegreiflich, wie er mit seinen großen Händen und der enormen Schere so niedliche, feine Sächelchen ausschneiden konnte.“
Andersen hat seine Scherenschnitte oft für einen bestimmten praktischen Zweck gemacht. Eine Freundin beschreibt dies: Eines Tages um die Essenszeit gab er mir ein Bukett. „Es sollte wirklich ein kleines Blumenpapier drum herum sein“, sagte er, dann nahm er eine Schere und Papier aus der Tasche und schnitt aus, während ich zuschaute: einen Buketthalter mit einer symmetrischen Reihe von Sandmännchen.
Auch für den Christbaum hat Andersen Figuren ausgeschnitten. Sie sind aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt: Hut, Haar, Krawatte und auch das Muster des Kleides und des Hutes sind extra ausgeschnitten und nachträglich aufgeklebt. Heute würde man diese Arbeiten, die ganz modern wirken, als Collage bezeichnen. Augen, Nase und Mund sind in die Köpfe hineingezeichnet – es wäre unpassend gewesen, sie herauszuschneiden.
Für die Kinder und Enkel seiner Freunde hat Andersen Bücher hergestellt mit fremden und eigenen Bildern, mit Scherenschnitten und manchmal auch mit Texten. Auch dies hat Andersen in „Des Paten Bilderbuch“ selber beschrieben: Der Pate konnte Geschichten erzählen, ganz viele und ganz lange; er konnte Bilder ausschneiden und Bilder zeichnen, und wenn es auf Weihnachten zuging, holte er ein Schreibheft mit sauberen weißen Seiten hervor, auf die klebte er Bilder, aus Büchern und Zeitungen herausgeschnitten; hatte er dann nicht genug für das, was er erzählen wollte, dann zeichnete er sie selber.
Dass auch diese Bücher zum Gebrauch bestimmt waren, zeigt das Folgende:
„Dieses Buch muss sehr gut aufbewahrt werden“, sagten Vater und Mutter, „das darf nur bei festlichen Gelegenheiten hervorgeholt werden.“ Auf den Einband hatte der Pate jedoch geschrieben: „Zerreiße das Buch, es macht nicht viel aus, Andere kleine Freunde verüben schlimmeren Graus.“ Bei der Mitgliederversammlung in Nürnberg 1998 gab es eine Diskussion über Andersens Scherenschnitte. „Die Märchen sind gut“, hieß es, „im Gegensatz zu den Scherenschnitten.“ Tatsächlich besteht aber kein Gegensatz zwischen den Märchen und den Scherenschnitten. Beide stammen aus derselben Phantasiewelt und beide zeigen dieselbe erstaunliche Kunstfertigkeit. Manchmal hat Andersen diese Fertigkeit eingesetzt, um ornamentale, arabeskenartige Faltschnitte herzustellen. Der berühmteste entstand 1874 für Frau Melchior, in deren Familie er den letzten Lebensabschnitt verbracht hat.
Mit seiner Größe (42 x 26,5 cm) und den verschiedenen Symmetrieachsen zeigt dieser Scherenschnitt Andersens souveräne Meisterschaft. Fast alle seine Figuren sind darin versammelt: der Mühlenmann, der Pierrot, das Sandmännchen, der Schwan (das hässliche Entlein) und die Tänzerin. Die Masken in den Ecken scheinen zu weinen, und neben dem chinesischen Weisen, der auch nicht fröhlich dreinschaut, glotzt aus dem geschnittenen Geflecht breitmaulig der Tod, der auch in den Märchen so häufig anwesend ist. Kommt man nach Odense, in die Geburtsstadt Andersens, fallen einem neben den zahlreichen steinernen Märchenfiguren besonders die Scherenschnitte auf mit ihrer plakativen Werbekraft. Man sieht sie auf den unterschiedlichsten Gegenständen, den Besucher zum Kauf animierend. Viele Figuren kann man, maschinell gestanzt, als Mobile kaufen. Das Museum mit der großen „Andersensonne“ am Eingang zeigt in den Zimmerchen des Geburtshauses rührende „Erinnerungsstücke“ wie die Wiege der kleinen Ida mit den verwelkten Blumen. In dem modernen Anbau kann man nicht nur die vielen Ausgaben der Märchen sehen, sondern auch zahlreiche Illustrationen, darunter farbige Scherenschnitte von Sonia Brandes (SAW 9/10) und von Kirsten Berg (sie lebt und arbeitet in Odense). Im Gegensatz zu den Illustrationen mit ihrer Wiedergabe der Märchenszenen kommen einem die Figuren Andersens vor, als seien sie den Geschichten entsprungen, um ein interessantes eigenes Leben zu beginnen, ein Leben, das den Tod nicht kennt.
Literatur:
1. Hans Christian Andersen: Sämtliche Märchen, Winkler 1996
2. Hans Christian Andersen: Märchen Geschichten Briefe, ausgewählt von Johan de Mylius, Insel 1999
3. Kjeld Heltoft: H. C. Andersen als bildender Künstler, Kopenhagen 1980
4. Hans Christian Andersen: Billedbog, Sleswigsk Forlag 1924
5. Johan de Mylius: H. C. Andersen Papirklip, Aschehoug 2000
Ich danke Herrn Museumsdirektor Askgaard für das Gespräch über Andersen und seine Scherenschnitte und für die Bilder mit der Genehmigung für den Abdruck in Schwarz Auf Weiß. Besonders dankbar bin ich Frau Bente Weitbrecht, die mich mit Literatur über Dänemark und über Andersen versorgt hat und die recht hatte mit ihrer Meinung, man könne über Andersen nur schreiben, wenn man in Odense gewesen sei. Meiner Frau danke ich nicht nur für die Begleitung nach Odense, sondern auch für die vielen Gespräche und Diskussionen über das Thema Scherenschnitt.
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