Schwendy Dr. Jürgen

Schwendy Dr. Jürgenfoto

* 15.05.1911 in Berlin
? 04.08.1981 in München
Autor(in) Dr. Claudia Gross-Roath
Vereinszeitung SAW 23

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Auf einem Schiff sieht der Betrachter etwas nach links aus der Bildmitte gerückt den griechischen Helden 02Odysseus. Die Schere hält just den Augenblick fest, in dem zwei Gefährten den Weitgereisten mit lasso-artigen Seilen an den Mast binden, an dem das Segel trost- und windlos herunterhängt. Die beiden Seefahrer haben alle Hände voll zu tun, um ihren Anführer zu bändigen. Der ist bereits mit Haut und Haaren dem betörenden Gesang der Sirenen verfallen. Ungeachtet der Totenköpfe und Gerippe zu ihren Füßen hat Odysseus nur Augen für die Nymphen links im Bild, die übereinander in Höhlen untergebracht, ihre Instrumente spielen. Während sich der Protagonist von den Klängen der Harfe bezaubern lässt, lauert hinter ihm, zu des Betrachters Rechten ein sechsköpfiges Ungeheuer. Die scharf bezahnten Mäuler weit aufgerissen, strecken sich die langen Hälse der Skylla aus dem Felsendunkel hervor. Im zwölften Gesang der Odyssee schildert Homer die beiden dargestellten Begebenheiten, die Schwendy in einem Bild zusammenfasst. Damit erhöht er sowohl die kompositorische als auch die inhaltliche Spannung: Odysseus ist hier tatsächlich von Gefahren umringt.
Da im Scherenschnitt Bildtiefe der Reduktion des Mittels anheim fällt, bedient sich Schwendy der Staffelung des Bildraumes in die Breite.
 
Der Arzt wuchs in München, Schwabing, Freimann und Dachau auf. Das Abitur legte er in Neustadt an der Weinstraße ab. Ab 1947 lebte er in Dresden, von wo er 1958 über Umwege zurück nach München gelangte. Mit dem Scherenschnitt begann er im Alter von 12 Jahren. Zuerst erhielt er Anregungen aus dem Buch eines Mitschülers, später dann unterwiesen ihn nacheinander ein Kunstschüler aus Dachau, der Grafiker René Binder, die Bildhauerin Magdalene Kreßner (Dresden), Bernhard Kretzschmar und Fritz Koch-Gotha.

14Die meisten seiner Illustrationen weisen wie das obige Beispiel einen Rahmen auf. Darin entwickelt sich die Handlung, getragen von den immer recht bewegten Figuren ohne Binnenschnitte. Eine Ausnahme bildet die inhaltliche Notwendigkeit einer solchen Binnenkerbe, wie im Falle des Beispieles aus „Die Taten des Herakles“: Hier zeigt der runde Einschnitt deutlich die schwarze Pfeilspitze, mit der Herakles den dreileibigen Riesen Geryones erschoss, dessen Rinder zu entführen, eine seiner zwölf Aufgaben war2. Oftmals bedient sich der Künstler des Stilelementes der Reihung, sei es horizontaler oder vertikaler Ausrichtung. Dabei wird eine Figur in sehr ähnlicher Haltung viele Male variiert.

Im Falle einer Illustration zu „Franz von Assisi“3 sitzen die Vögel nebeneinander auf den unteren Zweigen09 des Baumes, alle zu dem Heiligen ausgerichtet. Im oberen Bildbereich jedoch haben drei Reihen von Vögeln ihre Schwingen ausgebreitet und sich von den Ästen erhoben.

Eine horizontale Reihung findet man in einer Illustration zu „Der Freiheit Lust in Afrika“4 auf der rechten Bildseite: Frauen und Kinder sitzen über- und untereinander auf Zweigen und locken ein Nashorn, wohl um es zu fangen.

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Zwei besonders gelungene Reihungen finden sich auch in der eingangs zitierten Odyssee. Es handelt sich einmal um „Die Rückverwandlung der Gefährten“. Mit feinem Humor zeigt Schwendys Schere dem Betrachter die Metamorphose eines Seemannes von einem Schwein zurück in seine menschliche Gestalt – bis zuletzt bleibt das Ringelschwänzchen ihm erhalten. Es ist erst verschwunden, als die Verwandlung vollendet ist. Sich nach links aus der Bildmitte herausbewegend erkennt man die Zauberin Kirke und Urheberin der Verwandlung.

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Im zweiten Beispiel sieht der Betrachter, wie je zwei der treulosen Dienerinnen nach Odysseus Rückkehr die von ihm gerichteten Freier seiner Frau Penelope davon tragen. Auch hier halten sich Wiederholung und Variation die Waage. Mal gehen die Dienerinnen tiefgebeugt unter ihrer Last, mal aufrechter. Die vier getöteten Männer sind entweder mit auf die Brust gesunkenem Kopf oder mit weit nach unten hinabhängendem Haupt oder Armen dargestellt. Die klassische Figurenreihe wird durch die verschiedenen Haltungen belebt.

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Schwendy schnitt frei und ausschließlich mit der Schere: Seine kleinen Kunstwerke stellt Jürgen Schwendy mit aufgestützten Ellbogen im Sessel sitzend freihändig mit kleinen Nagelhautscherchen und Spezialpapier her. Die Motive, die er ausschneiden will, existieren nur in seinem Kopf, aufgezeichnet werden lediglich Randlinien und gerade Striche.5 Wie meisterlich er die Technik beherrschte wird an der Komposition der Illustration „Das selbstgebaute Schiff“ deutlich:
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Des Helden Segelschiff ist schon fast vollendet. Es liegt Bug aufwärts an einem Felsen, sodass Mast und Segel den gesamten oberen Bildraum rechts mit Diagonale und langen sowie kurzen halbrunden Linien beleben. Unter der Takelage arbeitet Odysseus mit einer Axt an den letzten feinen Arbeiten. Die zackelige Felswand am linken Bildrand zeigt auf jedem Absatz Amphoren und andere Gefäße. Oben steht Kalypso in die Betrachtung des Schiffes versunken, das den Griechen nun bald davon tragen wird. Inhaltlich und kompositorisch wichtig sind deshalb auch die Wellenlinien an der oberen Bildkante. Trotz der Spannung, die durch das schräg aufgestellte Schiff, den Mast und das große Halbrund des Segels erreicht wird, wirkt der Scherenschnitt ausgewogen. Schwendy hat in der linken unteren Bildhälfte Schwarz überwiegen lassen, in der rechten oberen aber Weiß. Tatsächlich verläuft die Grenze von der Bildecke links oben fast genau auf der Diagonalen nach rechts unten. Das dunkle Dreieck im unteren Bildbereich spricht im Betrachter das Gefühl der Stabilität an, dem im weißen Dreieck eine Leichtigkeit gegenübergestellt wird.

Der Scherenschneider veröffentlichte von 1947 bis 1981 acht Bücher, wovon fünf mit Original-siebdrucken6 versehen waren, und eine Postkartenserie.
Schwendy begeisterte sich für die Drucktechnik da einerseits durch die matten Schwarzweißdrucke und die geringe Erhabenheit der Siebdrucke der Charakter des Scherenschnittes besonders gut herauskommt.‘7 Für wenigstens vier dieser Bücher fertigte Mory und Meyer, München, die Siebdrucke an. Daher wurde, obgleich sie verschiedene Formate aufweisen, für alle das gleiche Papier verwendet.

Zuerst veröffentlichte Schwendy „So leben wir in Afrika“ (Peter Hartmann Dresden), zwei Jahre später in einem Leipziger Verlag (Volk und Buch) „Die grosse Reise“. Beide Bücher befassen sich mit der Tierwelt. Im ersten Buch, das er für das Lesealter zwischen 6 und 10 Jahren konzipierte, werden die Tiere in ihrer Heimat Afrika gezeigt, während das zweite ihr Leben in einem deutschen Zoo zum Inhalt hat. Seine Kinder und die gemeinsamen Zoobesuche inspirierten ihn zu dieser Thematik, zu der er 30 Jahre später mit „Der Freiheit Lust in Afrika“ zurückkehrte. 1957 erschien im Altberliner Verlag Lucie Groszer ein Bilderbuch nach Originalscherenschnitten „Der alte Wang“8.

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Die Abbildungen darin sind in Originalgröße wiedergegeben. Sie erzählen die Geschichte von dem alten dicken Chinesen Wang, der auf Brautschau geht. Unterstützt werden die beredten Illustrationen durch die Verse, die Walter Krumbach nach Schwendys Angaben verfasste. Das Buch, in dem der reiche garstige Wang zuerst die Braut und dann seinen Reichtum verliert, wurde 1972 in Frankfurt (Roter Druckstock) ein zweites Mal verlegt. Und noch ein weiteres Mal entführt Schwendy seinen Betrachter/Leser ins Ausland. Beim „Der Tod des Gauklers“ handelt es sich nach Selbstaussage Schwendys um ein indisches Märchen mit eigenen Versen versehen unter dem Gesichtspunkt, den heranwachsenden Kindern ein Verständnis für die Denkungs- und Lebensweise des indischen Volkes zu vermitteln. Gleichzeitig das Bestreben, die Feinheit und Zartheit des Scherenschnittes auf die Spitze zu treiben9.

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Die Postkartenserie „Gesund und froh, mach‘s ebenso“ entstand um 1950 für das Hygiene Museum in Dresden. In diesem speziellen Falle verbanden sich Beruf und Scherenschnitt. Schwendy erwähnt des weiteren vier unveröffentlichte Scherenschnitt-Serien: „Die neue Heimat“ (1948; 17 Scherenschnitte), „Dschungelgeheimnis“ (o.J.; 52 Scherenschnitte), „Robinson heiratet“ (o.J.; 45 Scherenschnitte) und „Die Kinder des Zeus“ (o.J.; 40 Scherenschnitte)10. Die zahlreichen Einzelschnitte, die Schwendy neben den Illustrationen schuf, befinden sich hauptsächlich in privater Hand.

 
Ausstellungen:
1959 Scherenschnitt-Ausstellung bei Gurlitt, München
1980 Ausstellung der Originalscherenschnitte „Die Odyssee“ in den Räumen der Residenzbücherstube, München, anläßlich der Veröffentlichung des Buches bei Langen Müller
1983 Stadtmuseum München „Licht und Schatten“
 
Anmerkungen:
1 Homer: Die Odyssee in Scherenschnitten. München/Wien (Langen) 1980
2 Eine weitere Ausnahme sind Kleider und Blumen als Haarschmuck in „Der alte Wang“
3 Franz von Assisi ist mit handschriftlichen Texten versehen.
4 Die Illustration ist auch in Happ, Alfred: Licht und Schatten. Scherenschnitt und Schattentheater im 20. Jahrhundert. München (Ausstellungskatalog) 1983 S. 75 abgebildet.
5 Berg, Gina: Eine kleine Schere als Lebensbegleiter. Süddeutsche Zeitung 2.5.1980 S. 20
6 Musikalische Friedensträume 1970; Der Tod des Gauklers 1972; Der Freiheit Lust in Afrika 1976; Franz von Assisi 1978; Homer: Die Taten des Herakles 1981. Es handelt sich um selbstverlegte Werke.
7 Schwendy, Jürgen: Dreiseitiges Typoscript zu seinen Veröffentlichungen, ca. 1980 S. 2
8 Die Abbildungen der Scherenschnitte in dem Buch sind in Originalgröße wiedergegeben.
9 Schwendy, Jürgen: s.o. S. 2
10 Schwendy, Jürgen: s.o. S. 3

 

 

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