Kerbitz, Charlotte
* 30.03.1904 in Meerane/Sa.
? 03.04.1989 in Potsdam
Vereinszeitung SAW 26
Autor(in)Rudolf Kerbitz
Es sind die Arbeiten der in Meerane/Sa. geborenen Friseurmeisterstochter Rosa Charlotte Nürnberger, verehelichte Kerbitz. Sie war die Ältere von zwei Töchtern und stand unter starkem Einfluss ihres insbesondere musisch vielseitig engagierten Großvaters Carl Gustav Adolph Müller, der Mitglied des Vorstandes des Gewerbemuseums Meerane war, Mitbegründer der Vereinigung Heimatforschung, Vorstand und Regisseur im dortigen Theaterverein, Vorstand des Aquarien- u. Terrarienvereins, Vorstand des Verkehrsvereins und auch noch amtlicher Armenpfleger. Großvaters Sohn, ihr Onkel Carl Ludwig Müller, war Kaufmann. Seine Hobbys waren ebenfalls Theater und Musik, er spielte mehrere Musikinstrumente, komponierte und dirigierte ein Liebhaberorchester. Seine Frau beschäftigte sich mit Ölmalerei. Meinem Vater versuchte er, vor meiner Geburt, das Zither spielen bei zu bringen, allerdings erfolglos (Vater überließ das Singen und Spielen lieber meiner Mutter). Als Kleinkind erlebte ich eine Livesendung des Rundfunksenders Leipzig mit diesem Onkel und meiner Mutter als Solistin.
Vom Großvater und dessen Vater, der Schriftsetzer (Metteur) gewesen war, erbte sie wohl ihr Zeichentalent. Vielleicht war es eine Schere aus dem elterlichen Frisiersalon, mit der sie ihre ersten Scherenschnitte versuchte. An beider Interessen und den ererbten Talenten hat sie ihr späteres Leben ausgerichtet. In der Schulzeit bekam sie wegen ihrer guten Noten eine Freistelle für den Besuch der Höheren Bürgerschule für Mädchen, wo sie bei passenden Gelegenheiten mit Zither oder Laute als singende Schülerin mit einem besonderen Timbre ihres Soprans aufgefallen war und daher bei Frau Kantor Krantz und später bei einer Sängerin, Frl. Rackwitz, Gesangsunterricht erhielt. Mitwirkung im Oratorienverein, Freundschaft mit der damals bekannten Rezitatorin Ella Herzog und ihre eigenen solistischen Auftritte im musischen Milieu einer mitteldeutschen Kleinstadt trugen dazu bei, daß sie begann, von einer Zukunft als Koloratursopranistin par excellence zu träumen.
Doch schon mit 18 Jahren lernte sie meinen Vater kennen. Zwar war sie gerade erst bei dem Kaufmanns-Onkel Kontoristin geworden und arbeitete danach als Stenotypistin und Fremdsprachenkorrspondentin in einem Werk für Holzbearbeitungsmaschinen.
Aber 1926 wurde geheiratet, 1929, 1932 und 1935 drei Söhne geboren, und damit war es aus mit dem Traum von einer Theaterkarriere.
Aber 1926 wurde geheiratet, 1929, 1932 und 1935 drei Söhne geboren, und damit war es aus mit dem Traum von einer Theaterkarriere.
Der Beruf meines Vaters brachte es mit sich, dass wir sehr oft umziehen mußten. Bei meinem Eintritt in den Kindergarten hatte ich die dritte, bei der Schuleinführung die vierte, Ende des ersten Schuljahres die fünfte, in der Mittelschule die sechste, und als man mich ins Gymnasium steckte die siebente Adresse in fünf zum Teil weit auseinander liegenden Städten auf meiner Wohnungsliste; mit einem vorübergehenden Schulbesuch in Meerane bei Mutter’s Eltern sind es sogar acht. Teller und dergleichen in Zeitungen wickeln und in Kisten verpacken war Standard. Über noch nicht fertige neu angestrichene und noch nicht überall trockene Dielenbretter balancieren auch. Meine Mutter war ganz einfach zu lokalisieren, auch für einen Blinden. Überall wo sie stand, saß oder ging, war sie am Singen. In der Küche, überall in der Wohnung, und überall im Freien, wenn man spazieren ging. Ich erinnere mich daran, dass ich es als unangenehm empfand, wenn sie mal nicht sang. Das war nämlich das Anzeichen dafür, dass etwas im Busch war und man wahrscheinlich irgend etwas falsch gemacht hatte, und als Ältester war ich immer dran. Damals war ich regelmäßig froh, wenn sie wieder mit ihrem Koloratursopran verkündete: „kommt ein schlanker Bursch‘ ge-ga-an-gen usw.“, und alles in Butter war.
Kombiniert wurde der Gesang mit der Herstellung von Scherenschnitten. Auf diesem Gebiet war sie Spitze. Überall und zu jeder Gelegenheit machte sie welche, klebte sie sogar an die Fensterscheiben (z.B. im Restaurant am alten Müggelturm am Müggelsee in Berlin) und hatte Kontakte zu verschiedenen Verlagen (Bischof & Klein in Lengerich/Westf., Kunstverlag E.R.Herzog, Meerane/Sa., Deutsches Verlagsbuchhaus Dresden, und ein leider unbekanntes weiteres Schweizer Verlagshaus). Mit ihren Scherenschnitten war sie sehr freigebig, sie konnte, während wir irgendwo zu Besuch waren, in Nullkommanix einen Scherenschnitt ohne Vorzeichnung mit ihrer immer mitgeführten Schere hervor zaubern und hat ihn dann verschenkt.
Familienstationen waren Schlettau und Annaberg im Erzgebirge, Wurzen, Dresden, Zittau in Sachsen und Kleinmachnow bei Berlin, was aber nicht etwa bedeutete, daß die Familie auch immer zusammen lebte. Während vieler Jahre arbeitete der Vater bereits vor dem nächsten Umzug am folgenden Wohnort, in der Dresdener Zeit wurde er u.a. nach Hamburg und Zittau versetzt, von Zittau wieder nach Dresden und Berlin. Ich habe meine Mutter vor allem als Scherenschnitte produzierende Hausfrau erlebt, deren Hauptaufgabe darin bestand, drei Jungen lange Zeit ohne Vater aufzuziehen und sich nebenher von der Plackerei in einer Welt aus Schwarz und Weiß zu erholen. Als ich so ungefähr zehn Jahre alt war, bekamen wir oft Post aus der Schweiz, wohin sie Briefkarten – lauter Originale in Vignettengröße – lieferte, manchmal habe ich ihr beim Aufkleben und Büttenrand schneiden (mit der Hand) geholfen.
Damals im Krieg begann sie auch mit der Produktion von kunstvoll gestalteten Puppen aus gebrauchten Damenstrümpfen und Stoffresten. Der Traum, einmal an einem Theater zu arbeiten, verwirklichte sich für sie erst in Zittau, allerdings nun als Kostümbildnerin und Kunstgewerblerin. Bisweilen arbeiteten die Damen der Kostümschneiderei aus Platzmangel auch in unserer Wohnung. Meine Brüder waren derweil im Theaterkindergarten. Ihre Freundin, die Malerin Frau Gertraud Hinrich-Möbius, erzählte mir damals, daß die von mir bestaunte Filmschauspielanfängerin und Exstudentin Hildegard Knef ihre Kommilitonin gewesen sei, als sie ebenfalls Malerei studierte.
Nicht viel hat meine Mutter hinterlassen; außer einigen Originalscherenschnitten im Besitz der Familie sind noch einzelne unglasiert gebrannte Tonfiguren erhalten, zu denen sie im Zittauer Atelier ihrer Freundin angeregt worden ist.
Wie sie zeichnete, zeigt auch ein Architekturmotiv.
Sie legte wenig Wert auf diese Dinge und verschenkte immer alles, sie freute sich aber darüber, wenn man das, was sie tat, beachtete. An dem, was sie uns hinterlassen hat, kann man jedoch ihre Gedanken und ihren Lebensweg ablesen.
Sie legte wenig Wert auf diese Dinge und verschenkte immer alles, sie freute sich aber darüber, wenn man das, was sie tat, beachtete. An dem, was sie uns hinterlassen hat, kann man jedoch ihre Gedanken und ihren Lebensweg ablesen.
Unterzeichnet mit Lotte Nürnberger findet man da zum Beispiel ein kleines afrikanisches Motiv: denn ihren Tanzstunden-Abschlußball erlebte sie u.a. mit einer afrikanischen Prinzessin, der dunklen Schönheit Jenny Pilz, Tochter eines Kolonialbeamten, der eine Tochter des dortigen Stammesfürsten geheiratet hatte. Eine Reise zu ihren Cousinen nach Dornbirn/Österreich in den zwanziger Jahren inspirierte sie zu Alpenlandschaften. Während ihrer Freundschaft zur Rezitatorin Ella Herzog erscheinen Poesie-Postkarten; in den Jahren, als sie noch mit Mann und später den Kindern singend durch die Landschaft wanderte, solche mit (natürlich geschnittener) Notenzeile bekannter Volks- und Wanderlieder, und als junge Mutter Motive des Themas Mutter und Kind.
In der Novemberausgabe 1935 (Das Wikingerschiff, Verlag Bischof & Klein, Lengerich) sieht man (ihre) zwei Jungen an der Wiege des neugeborenen „Schwesterleins“. Sie muß enttäuscht gewesen sein, denn genau in diesem Monat wurde ihr dritter Sohn geboren. Vom Großvater übernahm sie dessen biedermeierliche Welt; Landschaft und Natur, Märchenhaftes, Kinder und Engelchen kamen ihr beinahe wie von selbst aus der Schere gepurzelt. Die Umgebung von Schlettau und Annaberg/Erzgebirge inspirierten sie ebenso wie die belebte Welt, der wir auf unseren Wanderungen begegneten. Für ihre Vorliebe, oft auch diese Tierwelt in ihre zahlreichen Darstellungen einzubeziehen, erhielt sie 1935 sogar vom Tierschutzverein Erzgebirge in Annaberg eine Anerkennungsurkunde. Bleibt nachzutragen: ihr letzter Arbeitsplatz vor der Rente war, wie in ihrer Jugend, der einer Büroangestellten und Stenotypistin. Dem Scherenschnitt blieb sie immer treu, auch den Gesang hat sie nie ganz aufgegeben. Zwar nicht im Theater, aber in privaten Veranstaltungen ihres Zittauer Kreises sang sie ihre Lieder und Arien. Sogar im Altersheim zu Potsdam hat sie sich wieder mit Musikern angefreundet. Von dort besitzen wir auch eine – technisch allerdings nicht sehr aussagekräftige – Aufnahme ihrer Stimme. Leider ist es die Einzige.
Ich habe diesen Beitrag mit Interesse und Vergnügen gelesen. Die Familie Kerbitz ist mir noch in guter Erinnerung aus meiner Zeit in Zittau. Meine Mutter und Lotte Kerbitz waren befreundet. Wir wohnten nicht weit voneinander entfernt in der Lessing- und Gellertstraße. Die Söhne sind mir noch in guter Erinnerung durch ihre Basteleien mit Modellen von Zirkuswagen. Leider haben sich unsere Familien durch den Wegzug der Familie Kerbitz von Zittau nach Kleinmachnow aus den Augen verloren.
Lieber Rudolf, danke für diesen wunderschönen Artikel. Deine Mutter und Dein Vater haben mein Leben massgeblich geprägt. Ich bin die Ines aus der Bertoldststrasse in Teltow. Ich denke so gern an die Zeit in Teltow zurück!