Rehsener Marie

Rehsener, Marie 01portrtrehesener

* 1839 in Memel
? 1917 in Freiburg i.Br.
Autor(in) Otto Kirchner
aus Vereinszeitung SAW 12

  rehesenersig

 

Biographisches
Marie Rehsener wurde 1839 in Memel geboren; ihr Vater war hier Prediger. Seine Kunstliebe hat er den beiden Töchtern mitgeteilt, bis das Idyll durch den Stadtbrand beendet worden ist. Nach dem Tod der Eltern begann für die Schwestern ein Wanderleben, das sie nach München, Rom, Baden-Baden, Wiesbaden, Venedig und Gossensaß führte. Marie schrieb, spielte Klavier, malte, betätigte sich als Bildhauerin und vor allem „war ihr eine ganz eigene Gabe eigen – die Kunst, mit der Schere auszuschneiden.“ 1917 ist Marie Rehsener in Freiburg i. Br. gestorben.

Die Italienreise 1871 – 72
„Das sind alles die reizendsten Genrebilder, sagte Ferdinand Gregorovius, der Italien kannte.” Dies steht auf dem Titelblatt der Schattenbilder aus Italien.
Es ist eine Mappe von 10 Blättern mit bis zu 9 Scherenschnitten je Blatt. Sie sind „nicht unmittelbar nach der Natur, sondern erst zu Hause entstanden. „Ihre Lebendigkeit haben die Scherenschnitte dadurch nicht eingebüßt.
Die Mehrzahl der Schnitte haben Titel mit erklärenden und teilweise witzigen Beschreibungen: „Auf beschwerlichem Wege hing sich der Knabe noch an den Esel. Er sollte steigen, es kam beim Schnitt so aus, daß er springen mußte.” 


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Das Volksleben mit all seiner Vielfalt ist das Hauptthema der Italienreise. Unter den Scherenschnitten gibt es ungewöhnliche Ansichten, wie z. B. den vollbeladenen Esel, welcher zu der Last auch noch seinen Herrn tragen muss. Besonders interessant ist ein Detail, das auf den ersten Blick nebensächlich scheint: Der Reiter trägt einen Gegenstand im Arm, mit dessen eiserner Spitze das Lasttier angetrieben werden kann. Dieses Werkzeug wird bei einer Beschreibung der menschlichen Seelenqual als Bild herangezogen: „Bürdet man einer Seele allzuviele Sorge auf, so ist das, als stachelte man ein zusammenbrechendes Maultier mit dem Eisenstock zur Eile an (Fernando de Rojas.) Durch das gehobene Vorderbein hat man den Eindruck, das Tier bewege sich. Dies führt zum Problem der Räumlichkeit, das bei den Gruppendarstellungen noch deutlicher wird.

03Im „Raub der Proserpina” hat Marie Rehsener zwei Doppelfiguren einander gegenüber gestellt. Den „verwickelten” Figuren der Plastik hat sie zwei parallel angeordnete Betrachterinnen entgegengesetzt: „Engländerinnen vor der Gruppe des Raubes der Proserpina: Oh, yes, möchten auch noch geraubt werden.” Mit dieser Beschreibung wird der deutlich sichtbare Hilferuf Proserpinas nicht nur abgelehnt, sondern ins Gegenteil verkehrt. Man kann dies durchaus als Tourismuskritik auffassen.

 

Königin der Schatten
Aber haben die Engländerinnen nicht recht? Schließlich ist es Pluto, der König der Unterwelt, von dem Proserpina entführt wird. Und sie wird von Pluto zur Königin der Schatten erhoben. Damit herrscht sie nicht nur über das Totenreich, sondern auch über das Reich der Schattenbilder. Ob Marie Rehsener dies bei ihrer Darstellung im Kopf gehabt hat, können wir nur vermuten. Goethe hat in seinem Beitrag für das Schattenrissalbum von J. F. von Anthing mit diesem Gedanken gespielt:
 
„Es mag ganz artig sein, wenn Gleich’ und Gleiche
In Proserpinens Park spazieren gehn,
Doch besser scheint es mir, im Schattenreiche
Herrn Anthings sich hier oben wiedersehn.”

 
Gruppendarstellungen
Über die Möglichkeit, Figurengruppen im Scherenschnitt darzustellen, gehen die Meinungen weit auseinander. Anna Corsep8 schreibt darüber: „Die Künstlerin Marie Rehsener hat häufig Gestalten in engen Gruppen, nah aneinander geschmiegt oder eins den Kopf auf die Schulter des anderen gelehnt, dargestellt, auch die Gesichter sind oft im Halbprofil oder ganz en face gegeben. Es sind dadurch mancherlei Unklarheiten entstanden, besonders hinsichtlich des Gesichtsausdruckes.”
Angewendet auf den Proserpina-Schnitt kann diese Kritik nur bedingt bejaht werden. Eine Unklarheit lässt sich vielleicht bei der Darstellung der Plastik feststellen. Der fehlende Gesichtsausdruck wird aber bei weitem aufgehoben durch den Ausdruck der beiden ineinander verschlungenen Körper: Gewalt und Abwehr! Die „Doppelfigur” der Engländerinnen ist vereint in der Bewunderung, jedoch haben die beiden zwei individuell ganz verschiedene Profile.

Schwester der Plastik
Die Darstellung der Plastik im Scherenschnitt führt zu Gedanken über die Verwandtschaft der beiden Kunstformen. Martin Knapp9 weist nicht nur auf die Bezeichnung „Papierschnitzen” hin, er sagt auch: „Das geschnittene und auf eine Unterlage gelegte Bild hebt sich von dieser ab und hat dadurch eine lebendigere, zuweilen sogar eine fast plastische Wirkung, namentlich wenn der etwas abstehende Ausschnitt auf die Unterlage einen leichten Schatten wirft.”
Otto Heuer geht in seiner Kritik der Scherenschnittausstellung von Marie Rehsener im Frankfurter Kunstverein 1906 noch einen Schritt weiter: „Die Silhouette ist die auf zwei Ausdehnungen beschränkte Schwester der Plastik. Wie ein plastisches Gebilde, von allen Seiten betrachtet, eine einwandfreie Silhouette ergeben soll, so muss auch der Schöpfer einer guten Silhouette den Blick des Bildhauers besitzen, denn er muss den Beschauer zwingen, die flache Silhouette plastisch zu sehen. Die Schwierigkeit wächst, sobald mehrere Gestalten darzustellen sind, deren Konturen einander zum Teil verdecken.“ Anstatt dem Problem aus dem Wege zu gehen und die Personen säuberlich zu trennen, hat Marie Rehsener versucht, es zu lösen.

Die Perspektive  
Wie viele Scherenschneider vor und nach ihr, hat Marie Rehsener auch perspektivische Darstellungen geschnitten. Ein besserer Herr sitzt mit ausgebreiteten Armen auf einer Bank. Von dieser sieht man die schräg gestellten Ornamente der Füße in einer dem Scherenschnitt angepassten Perspektive. Die Person bildet eine Einheit mit der Bank, die sie in Besitz genommen hat. Das ist so überzeugend dargestellt, dass es der Bildtext nicht mehr sagen müsste: „Anspruchslos, wenn nur drei Bänke fürs Publikum vorhanden sind.”

              
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Sozialkritische Inhalte
Der kritische Blick von Marie Rehsener wird immer wieder deutlich, nicht nur im Text, sondern im Bild selber. Manchmal ist er schonungslos entlarvend, manchmal ironisch und verständnisvoll, manchmal aber auch liebevoll und mitfühlend. Ein Beispiel dafür ist der hinter seinem Hut eingeschlafene Betteljunge.

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Die Frankfurter Ausstellung 1906
„Die Hauptwerke Marie Rehseners sind hier zum ersten Male vereint”, schreibt Otto Heuer: „Neben den großen Illustrationszyklen zu Goethes ‚Iphigenie‘, zu Kalidasas ‚Sakuntala‘, zu Gregorovius‘ ‚Euphorion‘ sieht man Blätter zu Dichtungen Chamissos, Heines, Freiligraths und anderer, Kinderszenen und Skizzen aus dem römischen Volksleben.”
Marie Rehsener hat demnach eine Ausstellung ihres Lebenswerks erhalten, und es fand eine Auseinandersetzung mit den eigentümlichen Fragen des Scherenschnitts statt.
 
Der Hintergrund
Während sich die Figuren des römischen Volkslebens in „klassischer” Weise auf den Umriss beschränken, hat Marie Rehsener bei späteren Illustrationen dem schwarzen Vordergrund einen mehr oder weniger grauen Hintergrund hinzugefügt. Dieser Hintergrund ist aus schraffierten Papieren geschnitten und dem schwarzen Vordergrund hinterklebt. Julius Müller beschreibt diese Technik: „Ihren Figuren fehlt nichts an Lebensfülle und Ausdruck, sie sagen vollständig, was sie wollen und sollen, und stehen stilistisch in Harmonie mit ihrer Umgebung. An diesem Gelingen ist offenbar die glückliche Behandlung der Luftperspektive wesentlich mitbeteiligt. Den landschaftlichen Hintergründen wurde durch einfache parallele Strichlagen ohne kreuzende Schraffierung ein mattes Grau gegeben, und hier und da taucht hinter dem zweiten Plan noch ein dritter in noch matterem Ton auf.” Diese matten Hintergründe sind wahrscheinlich der Grund, warum behauptet worden ist, Marie Rehsener habe die perspektivische Darstellung im Scherenschnitt eingeführt.

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Auf die Farbe kommt’s nicht an!
Eine arme Kunst sei der Scherenschnitt, wird behauptet; in der Armut liege aber sein geheimnisvoller Reiz (siehe dazu die Abbildung und das Gedicht auf der letzten Umschlagseite). „Da er vieles nur andeuten kann, so fühlt die Phantasie des Betrachters sich angenehm angeregt; der Genießende wird zum schöpferischen Mitarbeiter”, heißt es bei Otto Heuer. Schöpferische Mitarbeit ist bei jeder Kunstbetrachtung notwendig – die besonderen Eigenschaften des Scherenschnitts sollten für den Liebhaber eine Herausforderung sein.

                                verbesserung         

Anmerkungen:
1 Thieme-Becker, Band XXVIII, Rehsener, Marie, Silhouettistin * 1840 (?), Memel, † 1917 Freiburg i. B.
2 Julius Müller: Silhouetten zu Dichtungen. In: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 19, Mai 1882.
3 M. v. Gaevenitz: Marie Rehsener. Ein Lebensbild.-1924.
4 Ferdinand Gregorovius (1821 – 1891). Autor kulturhistorischer Werke, v. a. „Geschichte der Stadt Rom“.- Marie Rehsener hat seinen „Euphorion” illustriert.
5 Die Mappe mit den Originalen der Italienreise hat Ludwig Mogl zur Mitgliederversammlung in Nürnberg gebracht und gefragt, ob man nicht darüber schreiben könne. Ich bedanke mich bei Herrn Mogl für das Vertrauen und die Bereitschaft, Material über Marie Rehsener zur Verfügung zu stellen.
6 Fernando de Rojas: Celestina. Erstausgabe 1499; Neuübersetzung F. Vogelsang, Inselverl. 1989.
7 Johann Friedrich Anthing (1753 – 1805): Collection de cent silhouettes des personnes illustres et célèbres. Gotha 1791.
8 Anna Corsep: Die Silhouette. Verlag E. Haberland, Leipzig 1923.
9 Martin Knapp: Deutsche Schatten- und Scherenbilder. Dachau o. J. (1916)
10 Prof. Dr. Otto Heuer: Die Silhouette und ihre Meisterin. Frankfurter Zeitung, 23. 6. 1906.
11 Katalog der Stuttgarter Antiquariatsmesse 1994: SILHOUETTEN – REHSENER, Marie. Kalidasa. Sakuntala. In Schattenbildern. Kalligraphisches eigenh. Manuskript mit mont. Original-Scherenschnitten. Um 1880. 1 Bl., 2; 25 Texttaf. mit jeweils 1 mont. Silhouette. Frontisp. mit mont. photogr. Porträt. Deckblatt mit getuschter Bordüre und mont. Silhouette. 3.750,– Unveröffentlichter Entwurf. – Reizvolles Beispiel der Wiederbelebung der Silhouettenkunst vor der Jahrhundertwende. R. führte als erste die perspektivische Darstellung im Scherenschnitt ein.

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