Marion Grimm-Kirchner

Naturalistische Strukturen in Scherenschnitten 

von Marion Grimm-Kirchner

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Der Scherenschnitt beschäftigte Marion Grimm-Kirchner schon als Kind. Angefangen hat sie ganz traditionell mit so genannten „Rasenstückchen“, der illustrativen Umsetzung von Märchen oder Werken im Stil des Schweizer Scherenschnitts. Bis heute arbeitet sie in der traditionellen Scherenschnitttechnik, bei der schwarzes Papier mit einer speziellen Scherenschnittschere fein durchbrochen wird. Seit ihren ersten Werken hat sich ihr Spektrum technischer Variationen und Kombinationen allerdings deutlich erweitert und die Thematik vom Figürlichen bis hin zur Abstraktion grundlegend verändert. Das schwarze Scherenschnittpapier ist unverändert das Ausgangsmaterial, erlebt aber in der Koloration mit glänzender Acrylfarbe oder matter Kreide sowie in Papierobjekten, in denen Scherenschnitte mit handgeschöpftem Papier kombiniert sind, eine überraschende Spannungssteigerung. Die Erkenntnis, dass es sich bei den fragilen, abstrakt wirkenden und seit etwa 1990 überwiegend dreidimensionalen Objekten um Scherenschnitte handelt, überkommt den Betrachter gerade bei den Werken der letzten zehn Jahre oft erst auf den zweiten Blick.

 

 

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Das Wissen um das Spiel mit der Dreidimensionalität auf der Fläche und die Erzeugung von Raumillusion hat sich Marion Grimm-Kirchner während ihres Studiums der Kunstgeschichte (1977-1984) in Tübingen und Wien angeeignet. Ihr Studienschwerpunkt war die Kunst des Barock, in der genau diese Themen einen Höhepunkt in der Kunstgeschichte gefunden hatten. Erst beim näheren Hinsehen fällt auf, wie bedeutsam sich dieses kunsthistorische Wissen in ihrem Scherenschnittwerk der letzten zehn Jahre niedergeschlagen hat. Eine große Rolle für ihre künstlerische Genese spielten außerdem typische „weibliche“ handwerkliche Techniken wie die Weberei und die Spitzenstickerei, die sich in faszinierend verfremdeter Form in ihren Papierobjekten insbesondere der 1980er wiederfinden lassen.

 

 

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Seit 1998 befasst sich Marion Grimm-Kirchner mit der Kunst der Moderne. Gelegenheit gab ihr dazu ihre Tätigkeit zunächst in der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe, dann im Kunstmuseum der Stadt Bonn und im Hans Arp Museum in Rolandseck. Nach der intensiven Auseinandersetzung mit Hans Hartung (1904-1989) und seinem Umgang mit der Idee der Abstraktion als Weltsprache folgte ihm Marion Grimm-Kirchner bis hin zur Aufnahme von Anregungen aus japanischen Kalligraphien in jüngsten Werken aus dem Jahr 2008. Wichtige Impulse bekam sie von Arnulf Rainers (*1929) Pflanzenserien und Naturselbstdrucken wie auch seinem Umgang mit der Linie in Übermalungen und graphischen Werken. Großen Eindruck hinterließen schließlich Gotthard Graubners (*1930) Farbraumkörper und Kissenbilder.

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Thematisch stand seit 1995 die Natur reduziert auf naturalistische Strukturen im Mittelpunkt von Marion Grimm-Kirchners Werkes. Der Ursprung vieler geschnittener Motive ist beim bewussten Hinsehen durchaus noch erkennbar. Durch die starke Vergrößerung und die Reduktion auf kleine Ausschnitte gewohnter vegetabiler Motivkontexte erreicht diese Form der Naturnachahmung eine abstrakte Eigengesetzlichkeit. Die Auseinandersetzung mit der Natur bleibt bei Marion Grimm-Kirchner nicht auf die eigene künstlerische Tätigkeit beschränkt. Davon zeugt beispielsweise ihr Beitrag bei den Kinder-Kunst-Aktionen am „Aktionstag für die Zukunft unserer Erde – Alle für Vielfalt“  als Künstlerische Leiterin des Kunstcontainers zum Thema „Sonne und Vielfalt“ (2008).

 

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„Annis“ – Naturalistische Zellstukturen

Kleines, Unbedeutendes sichtbar zu machen ist die Absicht der „Annis“-Scherenschnitte. Den Namen leitet die Künstlerin vom Johannisbrotbaum ab, dessen Beobachtung sie während eines Urlaubs auf Kreta im Sommer 2000 zur Umsetzung naturalistischer Zellstrukturen in Papierobjekten anregte. Die „Annis“- Scherenschnitte haben Ähnlichkeit mit Borke des Johannisbrotbaums. In dem großformatigen „Annis“-Scherenschnitt aus dem Jahr 2004 (100 x 70 x 6 cm) versammeln sich wie bei der Borke kleine Zellen zu Zentren, schieben sich auseinander und gruppieren sich in größere linienförmige Strukturen. Der blockartige Rand mit gerader Außenkante und unregelmäßiger Kontur der Zellstruktur oben und an den Seiten kontrastiert stark mit der Offenheit des unteren Abschlusses, der an die ausgefransten Ränder eines abgebrochenen und schon leicht vermoderten Borkenstück erinnert. Während die Zellen an den geschlossenen Seiten aufgrund der Unregelmäßigkeit zwar nicht unversehrt, aber doch stabiler zu sein scheinen, entsteht der Anschein, am unteren Rand sei der Verfall der Zellstruktur bereits weiter fortgeschritten.

 

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Eine besondere Eigenheit dieses „Annis“-Scherenschnittes ist, dass die Zweidimensionalität des traditionellen Scherenschnitts zugunsten einer Andeutung von Räumlichkeit verlassen ist. Das durchbrochene Papier liegt nicht flach auf dem Hintergrund auf, sondern ist auf kleinen Stegen befestigt. Der Hintergrund erhält die Funktion einer spannungsreichen Projektionsfläche für den Schattenwurf des Scherenschnitts. Beim Vorbeigehen gerade auch an den „Annis“-Scherenschnitten mit Rupfenhintergrund wird anhand der unterschiedlichen Durchblicke durch die kleinen Zellöffnungen und den Fadenwechsel des textilen Hintergrunds die Illusion einer flackernden Bewegung erzeugt.

Blätter, Moos und Steine – Materialmix und naturalistische Farbigkeit

Eng verwandt mit den Annis-Scherenschnitten sind die kleineren Papierobjekte aus Blattgerippen und moosartig oder wie Stein wirkendem handgeschöpftem Papier. Die im Scherenschnitt noch deutlich in ihrem motivischen Ursprung nachvollziehbaren Blattgerippe stehen wiederum für den natürlichen Kreislauf mit Verfall und Auflösung natürlicher Strukturen.

Eigentümlichkeiten dieser Werkgruppe sind der kontrastreiche Materialmix aus präzise gearbeiteten Scherenschnitten und zufällig geformten, handgeschöpften Papierfragmenten sowie die naturalistische Farbigkeit. Scherenschnitte und Papierfragmente sind ,  verschieden übereinander montiert, zu kleinen Ensembles zusammengefügt. Die Scherenschnitte imitieren teils die noch vollständige Blattform mit regelmäßig wiedergegebenen Rippen und Zellen in deren Zwischenräumen. Andere Scherenschnitte bilden mit scheinbar ausgebrochenen Rändern, an denen nur noch die Rippen stehen geblieben sind, eine späteren Zeitpunkt im Verfallsprozess pflanzlicher Blätter ab.

Die Kolorierung des ursprünglich grauen, gelegentlich nur andeutungsweise schwarz oder auch flächendeckend rot-schwarz kolorierten handgeschöpften Papiers kontrastiert oder korrespondiert mit den braunrot oder bräunlichgolden eingefärbten Scherenschnittblättern. Die Farbigkeit erinnert an Herbstlaub, trockenes Moos und Steine. Das kleinere Format von durchschnittlich etwa 20 x 20 cm erleichtert diese Assoziation.

„Verschlungen“ – Die freie, entfesselte Linie

Die Scherenschnittobjekte der Werkgruppe „Verschlungen“ hat Marion Grimm-Kirchner aus der Naturbeobachtung an Pflanzen wie Glyzinien entwickelt. Eine meist schnell und ununterbrochen vorgezeichnete Linie ist das Bildthema. Anregungen für diese Vorgehensweise hat Marion Grimm-Kirchner der japanischen Kalligraphie entlehnt. Das Ergebnis ist ein Wechselspiel zwischen freien Flächen und verdichteten Überkreuzungen der einen einzigen entfesselten und in sich selbst verschlungenen Linie. Künstlerisches Ziel ist die, an den Jugendstil erinnernde, „schöne“ Linie. Die Linie kann kontinuierlich die gleiche Stärke beibehalten oder sich verjüngen und wieder anschwellen. Das schwarze Scherenschnittpapier ist mit braunroter Acrylfarbe eingefärbt und hat hierdurch eine glänzende Oberfläche erhalten. Diese Farbigkeit erinnert an die Nutzung von Lackfarben in der japanischen Kleinkunst.

Das Thema der verschlungenen Linie hat Marion Grimm-Kirchner mehrfach variiert. Neben allein der Linie gewidmeten Papierobjekten hat sie andere geschaffen, in denen einerseits die Linie mit blockartigen Balken kombiniert ist und andererseits durch spiegelsymmetrische, übereinander auf Papierstegen montierte Papierschichten ein mehrfaches Spannungsfeld zwischen Linie und Fläche aufgebaut wird.

 

grimm-kirchner.sig

 

www.grimmkirchner.de

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