Brüssing, Marianne

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Autor(in) Ingrid Englert-Fally
SAW 28

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„Der erste Moment des Schneidens ist schon eine kleine Mutprobe, aber denken Sie immer daran, dass ja gar nichts davon abhängt. Wenn es anfangs einmal schief gehen sollte, ist kein Bein gebrochen und kein teurer Stoff zerschnitten – nur ein Stückchen Papier muss ersetzt werden – und ihr Entwurf, aber den können Sie sicher gut wieder verwenden. (…) Fällt Ihnen der Scherenschnitt aus der Hand, lassen Sie ihn bitte fallen! In der Regel passiert dann nämlich gar nichts, denn der Scherenschnitt ist nicht so „zerbrechlich“, wie er aussieht. Sie machen die Arbeit viel eher kaputt, wenn Sie erschreckt versuchen, danach zu greifen.“


So anschaulich beschreibt Marianne Brüssing das Scherenschneiden in ihrem Buch „Scherenschnitte phantasievoll gestalten“, erschienen 1991 im Eulen Verlag.

Marianne Brüssing wurde am 29. November 1925 in Gochsen, Kreis Heilbronn, Württemberg, geboren. Sie ist mit einem Bruder aufgewachsen. Nach dem Abitur 1944 hat Marianne Brüssing in Bad Cannstatt als Luftwaffensanitätshelferin in Wien und Neubrandenburg gearbeitet. Sie war bis Sommer 1945 in Lauenburg an der Elbe in Gefangenschaft und begann 1946 mit der Ausbildung zur Berufsschullehrerin. Diesen Beruf hat Marianne Brüssing von 1951 bis 1961 in Heidenheim, Schorndorf und Stuttgart (Meisterschule) ausgeübt. Die Übersiedlung von Gochsen nach Schorndorf im Remstal (nähe Stuttgart) 1931 erfolgte aus beruflichen Gründen des Vaters. 1952 heiratete sie Heinz Georg Brüssing. 1982 zog sie mit ihrer Familie – mittlerweile waren drei Kinder geboren – nach Petersberg bei Fulda um.

Und woher kam nun ihre Liebe zum Scherenschneiden? In ihrem Buch schreibt sie: „Meine Mutter machte die Bilderbücher für uns Kinder immer selber; sie hatte Spaß daran, aber sicher auch die Haushaltskasse im Auge. Zu dieser Zeit gab man kaum Geld für Kinderspielzeug aus. Dafür wurde die Phantasie bei Kindern und Eltern in Anspruch genommen, und viele Dinge, die wir heute achtlos wegwerfen, fanden noch sinnvolle Verwendung: Zeitungsbilder, bunte Einwickelpapiere, das leuchtend rote Papier der Kaffee-Ersatz-Verpackung, Abbildungen auf Käseschachteln oder Schokoladentafeln und anderes mehr…

So wurden bei uns auch alle Postkarten gesammelt, Schriftseite auf Schriftseite gelegt und umstochen, zu einem ziehharmonikaartigen Bilderbuch zusammengefügt und bei jedem neuen Posteingang erweitert. Die Geschichten, die meine Mutter dazu zu erzählen wusste, waren aus dem Leben gegriffen und so bunt wie die Postkarten. Ab und zu war auch einmal ein schwarzes Umrissbildchen dabei, das mich damals aber nicht sehr interessierte. Geändert hat sich das erst, als wir als Zehnjährige unsere Poesiealben mit großem Sammeleifer allen Verwandten und vor allem Mitschülerinnen aushändigten.

 

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Ich hatte mir lange ein solches Album gewünscht und war überglücklich, als ich es bekam. Aber eines wusste ich sofort: Leuten, die schmierten oder die schillernde Engelchen auf Wolken, die Blumenkörbe mit Narzissen und himmelblauen Vergissmeinnichtblüten womöglich noch schräg einklebten, denen wollte ich mein Buch nicht geben. Nur konnte ich so manche Schulfreundin deshalb einfach übergehen? Ich wollte ja niemanden beleidigen.

So kam es, dass ich mir von allen nur Scherenschnitte wünschte – und ich war zu dieser Zeit nicht die Einzige, die es so machte. Weil auch andere diesen Wunsch hatten, versuchte ich damals meine ersten „Silhouettenbilder“ und gewann immer mehr Freude daran.

Ich bin in meinem Leben den Farben nie untreu geworden; aber der klare und beruhigend wirkende Kontrast von hell und dunkel gewinnt immer mehr Anziehung für mich, besonders wenn mich die oft grellen und überladenen Farbgebungen heutzutage verwirren.

Die Vielseitigkeit des Scherenschnittes wird häufig verkannt. (…).

 

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Aber das schlichte, klare Schwarz-Weiß in seinem offenen und harten Gegensatz hat auch seine Reize und spricht in besonderer Weise an. Im Winter kommt die Natur fast völlig ohne Farben aus, aber ist sie deshalb langweilig? Haben wir nichts zu betrachten auf dem Spaziergang? Ist es nicht herrlich, wenn die kahlen Bäume filigran gegen den hellen, eisklaren Himmel stehen? Fast wie kleine Kunstwerke wirken Gartenzäune, die sich vor dem sauberen, weißen, schneebedeckten Boden abzeichnen, selbst der bizarre Stacheldraht verliert seine „Bosheit“, wenn er seine Borte in die Landschaft sticht, unterbrochen von knorrigen Stützen. (…).

Während das künstlerische „Verwerten“ und Umsetzen der Natur die wahre und eigenständige Aufgabe des Scherenschnittes ist, war das Abbilden in möglichst naturgetreuer Form eigentlich der Vorläufer der Fotografie.“

Marianne Brüssing folgert, dass der bloße Umriss doch vieles ausdrücken kann. Der Scherenschnitt zeigt „konzentriert und ohne Ablenkung das Wesentliche“.

Viele Gedanken gehen Marianne Brüssing beim Schneiden durch den Kopf und es ist ihr ein großes Bedürfnis, dieses gedanklich Erfasste praktisch umzusetzen und ihren Mitmenschen weiterzugeben.

Die Beschäftigung mit Schönem kann eine gute Therapie für unser inneres Wohlbefinden sein und so ist es immer wieder eine dringende Aufgabe, den jungen Menschen so früh wie möglich Interessen mitzugeben.

Neben dem Scherenschneiden fand Marianne Brüssing immer wieder Zeit zum Musizieren, Chorsingen und Sticken. Das Auf und Ab im kreativen Leben ist ausgeglichen. „So habe ich in Mußestunden den Gleichmut wieder gefunden“, sagt Alexander Puschkin und Marianne Brüssing strahlt Gleichmut aus. Sie hat den besonderen Reiz des Scherenschnitts – der Kunst des Weglassens, der Reduktion, der Besinnung auf das Wesentliche – für sich zum Elixier entwickelt. Die Gestaltung ihrer Gittertore unter anderem ist kein Zusperren, sondern macht Lust auf Öffnen und Weitermachen.


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