Margarethe Luther von Glehn

* 28.06.1909 in Narva       glehn
† 28.12.2001 in Bethlehem

Autor(in) Dr. Klaus Zentz
aus Vereinszeitung SAW 30

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„… im Sauseschritt, eilt die Zeit …“ – nicht für den Sammler, an den hat Busch dabei nicht gedacht. Ruhig steht der Sammler zwischen den Zeiten, versucht die Vergangenheit zu ordnen und in der Gegenwart mit eigenbestimmter Geschwindigkeit zu leben. Schmerzlich wird er dabei im Rückblick immer wieder akzeptieren müssen, dass zwei Weltkriege unzählige große Begabungen deutscher Künstlerinnen und Künstler nicht aufblühen ließen oder vertrieben haben.

So prägen auch die Wirren beider Kriege das Leben der hochbegabten Künstlerin des Scherenschnitts, Margarethe Luther von Glehn, die ich hier nicht nur an Hand zweier Werke aus meiner Sammlung  vorstellen möchte.
Wichtiger erscheint mir, dass ihr abwechslungsreiches Leben in Erinnerung gerufen und festgehalten wird. Letzteres gelingt vor allem deshalb, weil dem Schnitt „The Ricercare“ (vgl. später) ein ausführlicher Lebenslauf ihrer alten Freundin Lieselotte Cardinal v. Widdern beigefügt war. Frau Cardinal v. Widdern hatte den Lebenslauf am 15. März 1997 in Form eines Briefes in deutscher Sprache an eine gute Bekannte der Künstlerin geschrieben und davon eine Kopie aufbewahrt.

Dieser Lebenslauf ist ganz offensichtlich in enger Abstimmung mit Frau Luther v. Glehn zusammengestellt worden, die zu dieser Zeit aufgrund eines Augenleidens nicht mehr selbst schreiben konnte. Er enthält eine Menge sehr persönlicher Einzelheiten und ist mit so viel Wärme und Lebendigkeit ausgestattet, dass ich ihn als wichtiges Zeitdokument zitiere, ungekürzt bis auf wenige Stellen, die alleine den Brief selbst betreffen:
„Margarethe wurde am 28. Juni 1909 in Narva (Estland, Anm. des Verfassers) geboren. Ihre Mutter starb neun Tage nach ihrer Geburt. Margarethe wurde zunächst von den Eltern ihrer Mutter in Reval erzogen. Sie blieb bei den Großeltern Bernhard bis zu ihrem fünften. Lebensjahr. Während des 1. Weltkrieges 1914 kam sie dann in Reval zu ihrem Vater und dessen Schwester Agnes v. Glehn. Alle Glehns lebten während des 1. Weltkrieges zusammen. Sie wuchs in einer sehr musikalischen Familie auf. Ihr Großvater Glehn hatte zauberhafte Walzer komponiert, ihr Großonkel Alfred v. Glehn war berühmter Cellist und unterrichtete am Moskauer Konservatorium. Piatigorski war einer seiner Schüler. Ihr Vater spielte konzertreif Geige, ebenso dessen jüngster Bruder Walter. Agnes war Pianistin, Margarethe hatte ihre ersten Klavierstunden bei ihr.

Sie wuchs mit vier Sprachen auf: Deutsch, Russisch, Französisch und Estnisch. Sie flüchteten 1918 vor den Bolschewiken mit dem zurückziehenden deutschen Heer und lebten zunächst in Danzig. Agnes v. Glehn wurde dann mit der kleinen Margarethe auf einem Gut im späteren polnischen Korridor aufgenommen bei einer Familie v. Kries, entfernte Verwandte meiner Mutter. Zu der Zeit suchten meine Eltern für mich, als Einzelkind, ein gleich altes Mädchen zur Miterziehung. So kam Margarethe 1919 zu meinen Eltern nach dem Rittergut Zigahnen. Wir wurden bis zu unserem 16.ten Lebensjahr von Privatlehrern unterrichtet und fuhren einmal in der Woche nach unserer nächsten Stadt Marienwerder zur Klavierstunde bei einer ausgezeichneten Lehrerin, Fräulein Erika Gibbe, die bei Breithaupt in Berlin Musik studiert hatte.

Ab 1926 besuchte Margarethe das Oberlyzeum in Marienwerder und machte dort 1929 mit Auszeichnung ihr Abitur. Mit 14 Jahren sah sie in Marienwerder in einem Schaufenster einen Scherenschnitt, sie war so fasziniert davon, dass sie kaum, zu Hause angekommen, sofort eine Schere ergriff und sich mit einem eigenen Scherenschnitt versuchte. Seitdem benutzte sie jede freie Minute, um sich in dieser Kunst zu vervollkommnen.

Nach dem Abitur ging sie zurück nach Reval zu ihrem heißgeliebten Onkel Erwin Bernhard, Bruder ihrer Mutter. Neben ihrem Beruf als Buchhalterin nahm sie Zeichenstunden bei einem bekannten russischen Maler, Kaygarodoff, der vor den Bolschewiken nach Reval geflüchtet war. Sie machte weiter laufend Scherenschnitte. In Reval sowohl wie später in Europa ist sie nur unter ihrem Mädchennamen bekannt und hat auch später ihre Scherenschnitte immer mit M.v.G. signiert. Sie fing mit Märchenbildern an und schnitt später dann auch Portraits, sogar von Hunden. Scherenschnitte von Blumen und Gräsern sind spätere Werke. Im Jahr 1935 heiratete sie Ferdinand Luther, ein Nachkomme des Onkels von Martin Luther.

Der älteste Sohn Lars wurde 1936 in Reval geboren. Im Jahre 1939 wurden alle Balten von Hitler nach Deutschland geholt. Sie lebten zunächst in Gotenhafen bei Danzig, dort wurde der zweite Sohn Holger 1940 geboren. Luthers hatten eine riesige internationale Sperrholzfabrik, die Ferdinands Onkel gehörte und in der er auch arbeitete. Nach seiner Übersiedlung nach Deutschland verschafften ihm seine Eltern eine Stelle in einer großen Holzfabrik in Deutsch Eylau. Ferdinand wurde bald danach als Dolmetscher eingezogen und war im Russlandkrieg. 1945 flüchtete Margarethe mit ihrem Mädchen und den beiden Kindern auf einem offenen Wagen und Pferden bei -30 Grad Kälte vor den Russen. Sie wurden um 2 Uhr nachts geweckt und dann hieß es: in 1 Stunde sind die Russen hier, macht dass ihr flüchtet. Trotz überfüllter Straßen durch zurückflutendes Militär und Flüchtlingstrecks schafften sie es, bis zu mir nach Glücksburg an der dänischen Grenze durchzukommen. Ich war schon 1944 dorthin gezogen, weil mein Mann als Marineoffizier Instrukteur an der Torpedoschule in Flensburg-Mürwik war. Sie wohnte zunächst bei mir. 1947 kam Ferdinand aus der Gefangenschaft zurück, vollkommen ausgezehrt, da er in einem der berüchtigten Hungerlager – siehe James Bacque „Other losses“ – in Frankreich gewesen war.

Sie fanden dann eine eigene kleine Wohnung in Glücksburg.  Margarethe war diejenige, die die Familie durch ihre Scherenschnitte über Wasser hielt. Sie wurde sehr berühmt in Glücksburg, ihre Scherenschnitte wurden vom dänischen Königshaus sowie von den Fürstlichkeiten des Glücksburger Schlosses gekauft. Der Scherenschnitt „Michael im Kampf mit dem Drachen“ ist im Kunstmuseum in Bern in der Schweiz.

Im Jahre 1955 wanderte die Familie aus nach Marietta, Ohio, Fred arbeitete in einer Fabrik daselbst und Margarethe in der Marietta Library, in der Freizeit machte sie weiter Scherenschnitte. Im Jahre 1971 gingen sie nach Torresdale bei Philadelphia, wo Fred die Verwaltung des großen Gartens einer Millionärin betreute, die ihren Besitz nach ihrem Tode der Lutherischen Kirche vermacht hatte. Margarethe registrierte die Kunstwerke im Schloss, eine Sammlung von ca.  tausend wertvollen Stichen, die die Besitzer erworben hatten. Sie blieben dort bis 1977. Von 1977 bis 1992 lebten sie in einem Altersheim in Basking Ridge, wo der älteste Sohn Lars ansässig war.

Lars zog dann um nach Bethlehem und da Fred an Krebs erkrankt war, nahm er die Eltern zu sich bis zu Freds Tod 1993. Margarethe war danach kurz in einem Altersheim bei Boston, und als das Altersheim aufgelöst wurde, kam sie 1993 zu mir und lebt seitdem bei mir in Ottawa. Infolge einer unheilbaren Augenkrankheit musste sie mit 80 Jahren ihre Scherenschneidekunst aufgeben.
In Philadelphia sowohl wie in Basking Ridge war sie sehr bekannt und erhielt in Philadelphia die Benjamin-Franklin-Medaille.“
Nach Angaben ihres Sohnes Holger starb Margarethe Luther v. Glehn am 28.12.2001 in Bethlehem in einem Altersheim in der Nähe ihres Sohnes Lars. Ihr künstlerischer Schwerpunkt lag bestimmt bei den Scherenschnitten, sie zeichnete und aquarellierte aber auch und malte farbige Wappen. Im Jahre 1990 wurde sie zum Ehrenmitglied der Guild of American Papercutters ernannt.

Nun zu den beiden weiter oben erwähnten Scherenschnitten:
Das Tryptichon mit dem Heiligen Franziskus und den Tieren wurde in Norddeutschland erworben. Es war wohl als Fensterbild gedacht. Die Provenienz ist bis in die unmittelbare Nachkriegszeit gesichert.
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Von tiefer Symbolik durchzogen ist der zweite Scherenschnitt, von Margarethe von Luther-Glehn als „The Ricercare“ bezeichnet. Das Ricercare für 6 Stimmen stammt aus dem Musikalischen Opfer, BWV 1079, das im Zuge der denkwürdigen Begegnung des alten  Bach mit Friedrich dem Großen entstand und von Bach diesem gewidmet wurde.
Sie hat zu diesem Scherenschnitt, ein sehr persönliches, ihr Innerstes zeigendes Werk, eine handschriftliche Deutung hinterlassen, die ebenfalls dem Schnitt beigefügt war und etwa in das Jahr 1986 zu datieren ist.

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Sie schrieb in englischer Sprache, die ich in freier Übersetzung wie folgt wiedergebe:
„Mein Sohn Holger bat mich einst, für ihn eine Darstellung des Ricercare anzufertigen. Eine unendlich schwierige Aufgabe. Ich machte mir über zwei Jahre lang Gedanken, bis ich einen Weg fand, das auszudrücken, was diese Musik für mich bedeutet.
Dazu musste ich zunächst in meine Kindheit zurückgehen. Als ich sechs Jahre alt war, übte mein Vater, der ein Meister auf der Geige war, jeden Morgen die Große Chaconne für Solo Violine von Bach. Ich hörte atemlos zu. Ich fühlte, dass mir damit etwas erschreckend Großes und Aufregendes gegenüber trat, etwas, das sich oberhalb meines Kopfes bewegte und zu einer weit entfernten geistigen Ebene gehörte – wie ich heute sagen würde: zum Kosmos. So ging es mir immer bei der Musik von Bach. Ich studierte Bach zwölf Jahre lang.
Für die sechs Stimmen konnte ich keine Engel nehmen, da diese geflügelten Wesen seit der viktorianischen Zeit als sentimental und beinahe banal angesehen werden. Also erfand ich Wesen, die es zwar auf unserer Erde nicht gibt, die aber dennoch bedeutungsvoll und auch Schrecken einflößend sind. Sie gehören ebenfalls zu den geistigen Sphären und haben eine große Bedeutung. Zusammen mit Sternen stellen sie einen geistigen Kosmos dar.

Entgegen dem Uhrzeigersinn:
1. der Schamane
2. der Phönix
3. der venezianische Pferdedrachen
4. der große Vogel Rock
5. der chinesische Drachen
6. das Einhorn

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In den Kreis außen herum habe ich die sieben ersten Takte des Ricercare geschrieben, die das Thema bilden. Was die einzelnen Instrumente zu spielen haben, ist durch den jeweils zugehörigen Notenschlüssel angezeigt.“ Dieser beeindruckende Scherenschnitt ist Ausdruck der persönlichen Gefühlswelt der sensiblen und hochmusikalischen Künstlerin Margarethe Luther von Glehn und darf sicherlich zu ihren wichtigsten Werken gezählt werden.

2 Antworten

  1. Mende Dieter sagt:

    Gerade bin ich bei der Bearbeitung des Lebenslaufes meines Schwagers, Jürgen Bernhard, der Sohn von Erwin August Eduard Bernhard, 09.01.1881 – 21.06.1938, und suchte nähere Angaben zur Lutherischen Sperrholzfabrik in Reval im Internet als ich Ihren Bericht von Margarethe von Glehn fand. Jürgen Bernhard, geb. 30.01.1925 hat teilweise seine Jugendjahre mit ihr verbracht und schildert sie folgendermaßen: „sie war eine kleine, zierliche Person. Künstlerisch sehr begabt. Zeichnen, Malen, ausgezeichnete Scherenschnitte! Musikalisch war sie auch, spielte gut Klavier. Ein übermäßig sensibles Geschöpf mit dem Hang, sich das Leben möglichst schwer zu machen.“ Schön, dass ich auf Ihren Bericht gestoßen bin. Wäre es möglich, von Ihnen noch weitere genealogische Informationen und Jugendbilder, gern auch von den Bernhards -so vorhanden- zu bekommen?
    Mit freundlichem Gruß
    D. Mende

  2. Sehr geehrter Herr Mende, sehr zufällig stieß ich auf Ihren Kommentar mit der Bitte um weitere Infos über die Luthersche Fabrik etc.
    Meine Frau und ich vertreten das Archiv mit vielen Texten und Fotos der baltendeutschen Familie Hoffmann , zu denen auch die Luthers gehör(t)en. Eventuell können wir Ihnen weiterhelfen, wenn Sie genauer angeben, was Sie suchen.
    Mit freundlichen Grüßen, Bernd Gerhard

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